Die Kreide

Als Gotthold mit traurigen Gedanken überhäuft war und auf dem Tische, dabei er saß, ungefähr ein Stücklein Kreide fand, nahm er dieselbe und phantasirte damit auf dem Tische, wie sorgenvolle Leute pflegen, machte damit mancherlei wunderliche Züge, Kreise und Striche durcheinander, daß er endlich selbst nicht wußte, was es sein sollte; er begriff sich aber endlich und gedachte bei sich selbst: da habe ich den jetzigen Zustand meines Herzens gar artig auf dem Tische abgemalt; denn gleichwie hier die Striche und Züge seltsam durch einander gehen und doch nichts Förmliches vorstellen, auch zu nichts nütze sind, als daß man ein Merkzeichen hat eines vor Traurigkeit phantasirenden Menschen, so gehts in meinem Gemüth; die Gedanken und Sorgen laufen wunderlich durcheinander und sind dem Gesträuche auf dem Felde gleich, welches in einander wächst und sich so durcheinander verwirrt, daß man nicht hindurch kann. Abraham sah einen Widder, der mit den Hörnern in einer Dornhecke fest war, 1. Mos. 22, 13.; so gehts mit uns Menschen, wir vergehen uns manches Mal und verwickeln uns in die Dornhecken der Sorgen, daß wir nicht wieder los kommen können; allein was nützen unsere Sorgen? Und was richten wir mit unserer Bekümmerniß aus? Wenn wir lange gesorgt, gedacht, und alles mit Kummer und Betrübniß überlegt haben, so wird endlich eine solche Mißgeburt daraus, als hier auf dem Tische vor mir steht, die mir nicht den geringsten Trost geben kann. Wir machen uns einen Irrgarten in unserm Sinn, daraus wir uns nicht wieder zu finden wissen, und sind den Hühnlein gleich, die ins Werg oder Garn gerathen sind und nicht fort können. Was plage ich mich denn selbst mit meinen eignen Gedanken? Was mache ich mir selbst Unruhe und bilde mir ein, daß ich wolle Trauben lesen von den Dornen, oder Trost und Hülfe haben von Schwermuth und Sorgen? Mein liebster Gott und Vater! du weißt, daß es ein Stück ist von der Erbsünde, daß wir uns oft selbst zu versorgen, zu regieren und auszuwickeln vermeinen; verzeihe mir aus Gnaden, daß ich mich manches Mal in meinen Gedanken so vertiefe, daß ich an deine väterliche Fürsorge, Liebe und Treue nicht gedenke. Sollt ich dergleichen mehr thun, mein Vater! so gieb mir durch dein Wort und Geist einen Wink, daß ich mich besinne, meine Sorgen fahren lasse und all meine Anliegen auf dich werfe. Ich will beten und arbeiten, du magst sorgen!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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