Die Höhe

Als ein Kirchbedienter etwas zu besichtigen ziemlich hoch hatte steigen müssen, klagte er, daß er ohne Grausen an die Höhe nicht hätte denken können, und daß, so oft er die Erde unter sich oder die laufenden Wolken über sich angesehen, ihm ein Schwindel angekommen und er sich des Falls habe befahren müssen. Gotthold hörte dieses und dachte bei sich selbst: wir trachten alle darnach, daß wir hoch wollen steigen, und wenn wir die Höhe erreicht haben, finden wir erst, daß wir nur große Gefahr gesucht und erstiegen haben. Wer hoch genug gekommen ist, hat nichts mehr übrig, als daß er wieder hinunter steige oder falle; stürzen ihn andere nicht herab, so thuts sein eigner Stolz, der gefährlichste Schwindel hoher Häupter; darum thut der am weisesten, der sich selbst durch Demuth herunter läßt, damit er nicht hoch fallen könne. Und was ist’s Wunder, daß die Höhe in weltlichen Sachen so gefährlich ist, wenn auch in geistlichen und heiligen Uebungen einem die größte Gefahr bevorsteht, wenn er viele Stufen hinangekommen und es fast zur Vollkommenheit, so weit sich dieselbe in dieser Unvollkommenheit erstreckt, gebracht hat? Wenns nicht so wäre, was hätte Paulus der schweren Anfechtungen und des Satans Engel bedurft, damit er sich der hohen Offenbarung und seiner andern mühseligen, doch glücklichen Amtsverrichtungen nicht überhebe? 2. Cor. 12, 7. Und eben darum sagt der königliche Prophet: Wenn du mich demüthigst, machst du mich groß; Ps. 18, Z6., daß er nämlich anzeige, es könne niemand recht groß und hoch sein, und sich seines erlangten Vortheils versichert halten, wo ihn nicht Gott durch Erniedrigung erhöht und befestigt. Die erste Stufe zur Vollkommenheit ist, sich selbst und seine Nichtigkeit erkennen, die letzte und höchste Stufe, sich selbst und seinen Vorzug nicht wissen. Wer hoch ist und weiß seine Höhe, der fängt schon an zu fallen, und wäre ihm besser, nie hoch geworden, als hoch gefallen sein. Behüte mich, mein Gott! vor hoffärtigem Herzen und stolzen Augen, daß ich nicht wandle in großen Dingen, die mir zu hoch sind! Besser ein demüthiger Sünder, als ein stolzer Heiliger.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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