Die Hirsche
Ein großer Potentat ließ über hundert Hirsche fangen und in hölzerne Kasten verschließen, daß sie einem andern mächtigen Könige über das Meer sollten zugeschickt werden. An diesen Thieren nun war merkwürdig, daß, wie wild und scheu sie auch vorhin gewesen, sie nunmehr den Menschen aus der Hand aßen, was ihnen von Hafer, Heu, Kohl und dergleichen dargereicht wurde. Gotthold sah solches und sagte bei sich selbst: ach, mein Gott, wie ein seliger Zwang ist das liebe Krenz! wie dienlich ist es, uns fromm und zahm zu machen! Wenn das menschliche Gemüth außer Noth, frei und sicher ist und in weltlicher Lust, guter Gesundheit und Gesellschaft ohne Mangel und Sorgen durch die Welt, wie der freie Hirsch durch den Wald, trabt, da achtet es deiner so viel, als der Hirsch meiner. Der freie Hirsch flieht, wenn er den Menschen sieht, und nähme nichts aus seiner Hand, wenn es auch das Niedlichste wäre; so machen wir Menschen es auch bei guten Tagen; wenn du rufst: mein Kind, wo bist du? so verstecken wir uns. 1. Mos. 3, 9. 10. Wenn du uns lockst, so fliehen wir; wenn du uns deine Gnade in deinem Wort anbietest, so ist uns nichts darum, ja unsere Seele ekelt vor solcher losen Speise, 4. Mos. 21, 5., und wir fliehen dich als unsern Feind. Wie aber dem sichern Hirsch der Jäger aufpaßt und ihn oft mit einem Schuß unvermuthet fällt, also steht unsere Seele niemals in größerer Gefahr, als wenn sie außer Gefahr zu sein meint. Habe Dank, mein Gott! daß du uns in solcher Gefahr nicht lässest; du hetzest uns durch Verfolger und Verleumder, du verwickelst und fängst uns in mancherlei verschränkten und verwirrten Trübsalen als in Netzen, du verschließst und zwingst uns in Armuth und Krankheit, innerlicher und äußerlicher Noth; alsdann beginnen wir an dich zu denken, so werden wir demüthig und fromm, da erkennen wir dich als unsern lieben Gott und Vater und nehmen den Trost, den du mit deiner Gnadenhand uns darreichst, begierigst an. Das heißt: Wenn ich betrübt bin, so denk ich an Gott. Ps. 77, 4. Denn bei guten Tagen wirds oft vergessen. Ich danke dir, daß du mich demüthigst und hilfst mir! Ps. 118, 21.
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