Die Herkunft des Wortes Evangelium
Das griechische Wort "Evangelium" ist von Haus aus gar keine "fromme", religiöse Vokabel, sondern eine weltliche, politische. Evangelium, wörtlich "gute Nachricht", heißt Siegesbotschaft. Es gibt in der griechischen Geschichte eine Begebenheit, an der man sich sehr plastisch verdeutlichen kann, was "Evangelium" meint. Das Jahr 490 v. Chr. brachte für die Griechen eine höchst bedrohliche Lage. Der persische Herrscher Darius I. betrieb eine expansive Politik und wollte Griechenland einkassieren. So zogen die Perser mit einem gewaltigen Heer heran, und zwar gleichzeitig mit einer starken Bodentruppe und einer großen Flotte. Die Chancen für die Athener waren gleich Null. Man hatte nur wenige Soldaten, dazu kamen geringe Hilfstruppen aus Sparta. So schien der Ausgang des ungleichen Kampfes von vornherein festzustehen: Man würde buchstäblich von der Übermacht aufgerieben werden. Dennoch macht man sich unter Führung des tapferen Alkibiades auf, um ehrenvoll unterzugehen. In der Stadt Athen bleiben nur Kranke, Alte und Kinder zurück. Sie stehen dann auf den Mauern und schauen hinaus in die Ferne, dorthin, wo die Krieger verschwunden sind, und warten angstvoll auf den Augenblick, wo die letzten Überlebenden fluchtartig zurückeilen werden, um zu berichten, dass alles verloren sei.
So steht man und wartet, den sicheren Tod vor Augen. Da plötzlich, so wird berichtet (Geschichte vermischt sich hier mit Sage), sieht man am Horizont einen dunklen Punkt, der rasch größer wird. Ein Bote in eiligem Lauf! Was hat er zu melden? Man öffnet das Stadttor. Er stürmt herein, stößt völlig entkräftet einen einzigen Schrei aus: "Evangelium - wir haben gesiegt!" und bricht tot zusammen. Jener "sagenhafte" Bote ist berühmt geworden, und bekannt geblieben ist auch sein Lauf über die Strecke von gut 42 km, von der Marathonebene bis zur Stadt Athen. (Bis heute kennen wir bei den Olympischen Spielen immer noch den Marathonlauf.) "Evangelium - wir haben gesiegt!"
Was gehört zum Evangelium? Erstens eine Situation, die man mit einem großen Minus kennzeichnen muss; eine Situation, in der eindeutig alles verloren ist. Wer etwas anderes sagt, träumt. - Zweitens eine plötzliche, schier undenkbare, völlig überraschende Wende: Der Sieg. - Drittens der Bote: Dieser Sieg muss weitergesagt, muss ausgerufen werden. - Viertens: die Hörer. Es kommt alles darauf an, wie die Hörer sich zu dem Boten stellen. Bei der Marathon-Geschichte hieße das: Werden die Athener diesem Boten abnehmen, dass sein Ruf wahr ist, und zu jubeln beginnen, oder werden sie sagen: "Das ist unmöglich, das kann nur ein letzter, psychologischer Trick sein, uns noch für einen Augenblick zu trösten."? Glaube oder Unglaube, dass ist entscheidend. (Siegfried Kettling)
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