die gute, alte Mutter

"Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten" (Luk. 15,29)
Die alte Frau X. war viele Jahre in großer Verblendung und Selbstgerechtigkeit dahingegangen. Man hieß sie im Allgemeinen "die gute, alte Mutter". Leider aber ruhte ihre Güte und Gerechtigkeit auf sandigem Grunde. Gott hatte sie in zuvorkommender Gnade nicht allein vor groben Ausbrüchen der Sünde, vor Schande und Laster bewahrt, sondern auch manches Samenkorn der Wahrheit in ihr Herz ausgestreut. Sie war eine fleißige Kirchgängerin, betete ihren Morgen- und Abendsegen, war eine ordentliche Hausfrau und nach dem Urteil der Welt eine gute Gattin und Mutter. Aber an dem Bollwerk ihrer Selbstgerechtigkeit prallten alle Pfeile des göttlichen Wortes ab. "Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten", das schien die Grundstimmung ihrer Seele zu sein.
Wehe dem, der sie nicht für eine rechte Christin ansehen wollte! Da geschah es, dass ihre verheiratete Tochter sich bekehrte. Und während diese einen wahrhaft christlichen Wandel zu führen begann und vor allem an der alten Mutter tat, was man nur an aufopfernder Liebe erwarten konnte, konnte die Mutter nicht umhin, ihren ganzen Unwillen darüber loszulassen, dass ihre Tochter nun eine Betschwester geworden sei. Die ganze Bosheit ihres unbekehrten Herzens trat ans Licht uns sie war böse genug, ihrer Tochter zu sagen, dass sie sich ihrer jetzt schäme. Diese Ausbrüche von Wut und Bosheit benutzte nun aber der Herr, ihr ihr ganzes Elend vor Augen zu stellen. Es kam dahin, dass sie, beschämt von der Liebe ihrer Tochter, bitterlich über ihr eigenes böses Herz weinte, sich als eine elende Sünderin bekannte, den Heiland ins Herz aufnahm und nicht lange darauf im Glauben an ihren Erlöser nach schwerer, mit Geduld getragener Krankheit fröhlich heimging.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 930
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