Die große Vertrauensfrage

H. Kemner erzählt: Geradezu unermüdlich war die Geduld seines Freundes, als er versuchte, ihn zu einem guten Schwimmer auszubilden. In den stehenden Gewässern der Donaulachen hatte er oft schon Schwimmversuche gemacht. Doch nur für eine kurze Strecke hatte es immer gereicht, dann hatte er nicht mehr die Kraft, sich über Wasser zu halten.
Eines Tages nahm ihn sein Freund mit auf die Donaubrücke. Er schaute ihn fest an, und dann stellte er die unerwartete Frage:
"Sag mal, bin ich eigentlich wirklich dein Freund?"
"Aber natürlich bist du mein Freund", erwiderte er unbedenklich, "das musst du doch wohl wissen."
Der Freund lächelte: "Ob ich das wirklich weiß, hängt davon ab, ob du mir wirklich vertraust."
"Daran brauchst du nicht zu zweifeln, du stellst eine unnütze Frage, denn du hast mein Vertrauen!"
Des Freundes Gesicht zeigte nur zu deutlich, dass ihn diese Versicherung nicht restlos überzeugt hatte.
"Du glaubst mir  -  nun, das wird sich jetzt zeigen! Hier ist die Donau. Wer weiß, wie oft  ich hier durchgeschwommen bin, ich kenne die Stelle hier haargenau. Der Strom ist hier sehr tief, ruhig und ohne Strudel. Das ist nicht unbedeutend für die Tragkraft beim Schwimmen. In den Donaulachen wirst du nie volle Sicherheit im Schwimmen gewinnen. Hier ganz gewiss! Ich zweifle nicht, dass du hier schwimmen kannst, spring nur ruhig von der Brücke. Lass dich stromabwärts eine Weile treiben, und du wirst sehen, wie Recht ich habe."
Als er unruhig in die Tiefe schaute, legte der Freund seine Hand auf die Schulter des Zögernden. "Du vertraust mir? Nun, ich springe mit dir ab, und ich würde lieber sterben, als dich versinken lassen. Du weißt, dass ich ein guter Schwimmer bin und die Rettungsmedaille nicht umsonst habe. Die Strömung wird dich tragen!"
Nun war er freilich völlig gewiss, dass die Strömung ihn tragen würde, solange er seinen Freund anschaute, und doch wurde er gleicherweise ungewiss, wenn er tief drunten die Strömung der Donau sah. Warum zögerte er? Warum wollte er es zunächst in den Lachen weiterversuchen? Da stand sein Freund, der die Vertrauensfrage gestellt hatte. Mangel an Willen und Mut zur Entscheidung bedeuteten jetzt Bruch des Vertrauens.
Nachdem der Worte genug gewechselt waren, versuchte er wie ein Kind, das durch lautes Reden die Angst im Wald überwinden will, sich selbst zu ermutigen. Wild bewegte er die Arme und rief einige Male: "Hau ruck!" Aber noch immer stand er auf der Brücke. Leicht beschämt versuchte er daraufhin einen Anlauf. Aber auch der brachte ihn nicht über den toten Punkt.
Traurig schüttelte der Freund den Kopf: "Warum vertraust du mir nicht, wozu dies Theater?"
Ob er es wirklich gewagt hätte? In diesem Augenblick gab ihm sein Freund einen Stoß: Ob er wollte oder nicht, nun musste er springen. Hinein ging es in die Donau. Die Strömung trug ihn aus der Tiefe wieder herauf. Wie wunderbar die Tragkraft war! Er merkte: Ich kann schwimmen. Was hatte ihn nur gehindert, dieses Wagnis sofort einzugehen? Schon hörte er die Stimme des Freundes neben sich: "Nun, wie geht's?"
"Herrlich, einfach wunderbar!"
Martin Luther hat den Glauben als "verwegene Zuversicht" gedeutet. Verwegene Zuversicht zu der Gnade Gottes. In seinem Kreuz, in seiner Gottverlassenheit stellt uns der Sohn Gottes unausweichlich die Vertrauensfrage, ob wir unser Eigenleben führen wollen oder ob wir unser kurzes, enteilendes Leben in seine durchgrabenen Hände legen. Ob wir es wagen wollen, aus Sünde und Schuld heraus den neuen Aufbruch ins Leben zu suchen.
Allerdings, können alle Glaubenszeugnisse und alle Logik theologischer Beweisführung  diesen Glaubensakt nicht erzwingen. Die Willensentscheidung liegt bei uns.
Die Glaubenserfahrung, um die es hier geht, ist mehr als Existenzgewissheit. Sie bedeutet Leben, Leben im Überfluss, genug, dich durch deine Jahre zu tragen. Denn es ist das ewige Leben.

 

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 205
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