Die geheime Angst eines Ingenieurs

Vor dem Zweiten Weltkrieg las man mit Begeisterung die Novellen eines Schriftstellers namens Max Eyth. Er war eigentlich Ingenieur und nahm seinen Stoff vor allem aus den Anfängen des technischen Zeitalters. Eine Novelle war überschrieben mit "Berufstragik". Da schildert er einen jungen Ingenieur, der eines Tages durch merkwürdige Umstände einen ganz großen Auftrag bekommt. Er soll über einen Fluss, der schon mehr ein Meeresarm ist, eine Brücke bauen. Es ist ein sehr schwieriger Auftrag, weil an der Brücke schon Ebbe und Flut hineinwirken. Und man hatte am Anfang des technischen Zeitalters ja auch noch nicht die Mittel unserer Zeit. 
Der junge Mann baut also diese riesige Brücke. Als sie fertig ist, gibt es eine große Einweihungsfeier mit Musik, Fahnen und Zeitungsreportern. Prominente fahren in einem Eisenbahnzug über die Brücke. Der junge Mann steht im Mittelpunkt des Interesses. Alle Zeitungen bringen seinen Namen. Nun ist er ein gemachter Mann. In London errichtet er ein riesiges Architekten-Büro. Er heiratet eine reiche Frau. Er hat alles, was das Herz begehrt. Doch in seinem Leben gibt es ein merkwürdig dunkles Geheimnis, von dem nur seine Frau etwas weiß. Immer wenn es Herbst wird, ist er verschwunden. Er reist zu seiner Brücke. Und wenn nachts der Sturm tobt und der Regen peitscht, dann steht er, in einen Regenumhang gehüllt, draußen an der Brücke und hat Angst. Er spürt förmlich mit, wie der Sturm auf die Pfeiler seiner Brücke drückt. Immer wieder rechnet er durch, ob er die Pfeiler auch wirklich stark genug gemacht hat, ob er den Winddruck auf die Pfeiler wohl auch richtig berechnet hat. Wenn dann die Stürme vorüber sind, ist er wieder in London. Dann ist er wieder der große Mann, der im gesellschaftlichen Leben der Stadt eine bedeutende Rolle spielt. Keiner merkt ihm an, dass er im Grunde immer eine geheime Furcht hat. 
"Ist die Brücke richtig gebaut? Ist sie wirklich stark genug?" Diese quälenden Fragen sind das dunkle Geheimnis seines Lebens. Max Eyth schildert erschütternd, wie der Ingenieur dann in einer furchtbaren Sturmnacht wieder angstvoll seine Brücke beobachtet. Er sieht, wie ein Zug auf die Brücke fährt. Er sieht noch die Schlusslichter. Doch plötzlich sind sie im Toben des Sturmes verschwunden. Und da weiß er: Jetzt ist der Zug in die Tiefe, in das tosende Wasser gestürzt. Die Brücke ist in der Mitte zusammengebrochen.
Ist das nicht die Geschichte eines jeden Menschen? Wir bauen alle an der Brücke unseres Lebens. Und ab und zu, wenn wir mal eine schlaflose Nacht haben oder wenn irgend etwas uns sehr bewegt, steht die Furcht auf: "Habe ich die Brücke meines Lebens eigentlich richtig gebaut?"
Eine positive Antwort auf diese Frage kann nur der finden, der weiß:
Mein Leben ist nicht nach eigenen Bauplänen, sondern nach göttlichen erbaut. Christus als der Baumeister trägt die Verantwortung für Fundament und Ausführung.

Quelle: Mach ein Fenster dran, Heinz Schäfer, Beispiel 791
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