Die gaksende Henne
Die Henne, wie bekannt, hat die Art, daß, wenn sie ein Ei gelegt, sie solches mit vielem Gaksen und Schreien gleichsam ausruft und ihrem Hausherrn anmeldet. Als nun Gotthold solches hörte, gedachte er bei sich selbst: das Huhn macht es wie die stolzen Heiligen und Heuchler, die aus der Gottseligkeit ein Gewerbe machen und sobald nicht etwas Gutes mit halbem Herzen verrichtet haben, als sie wünschen, daß es zu ihrem Ruhm allenthalben ausgeblasen und kund gemacht würde. Allein die rechten Christen sind viel anders gesinnt; wie das Auge, das edelste Glied am menschlichen Leibe, sich selbst nicht sieht, also kennt die Frömmigkeit und Gottseligkeit sich selbst nicht. Die Gläubigen glauben nicht, daß sie glauben; die Demüthigen wissen nicht, daß sie demüthig sind; die besten und andächtigsten Beter haben mit Gott viel zu schaffen, daß sie nicht wissen und nicht daran gedenken, daß sie ganz, inbrünstiglich gebetet haben; die mildesten Wohlthäter können sich nicht erinnern, daß sie viel Gutes gethan, und wundern sich, wenn man ihnen für ihre Gutthat dankt; den Frommen dünkt immer, sie seien nicht fromm, und daher kommt’s, daß sie immer kämpfen, ringen und sich üben und bemühen, fromm zu werden, und eben hierin besteht das Wachsthum ihrer Gottseligkeit. Mein Gott! nichts ist mir mehr verdächtig, als wenn ich ein sonderlich Gefallen an mir selbst, an meinem Glauben, Gebet und Almosen habe, und solches gebe ich ganz verloren, weil, was mir selbst wohl gefällt, dir nicht gefallen kann; das Mißfallen aber, das ich an mir selbst und meinen Werken habe, erhält mich in steter kindlicher Furcht, Demuth und fleißiger Uebung, und also hoffe ich, daß, was mir mißfällt, dir in Gnaden um meines Herrn Jesu willen gefallen wird.
© Alle Rechte vorbehalten