Die Fibel
Der h. Christ hatte einem Knäblein eine Fibel oder ABC-Büchlein beschert, darüber es sich vor allen andern Gaben freute und wol so viel von diesem seinem schlechten Büchlein, als mancher Halbgelehrte von seiner ganzen Bibliothek hielt. Als nun ein guter Freund Gottholden erinnerte, er möchte doch auch bei dieser Begebenheit gute Erinnerungen schöpfen und vortragen, sagte er: Es sind viele Menschen, die sich der Buchstaben, die man erst in solchem schlechten Büchlein kennen lernt, im Lesen und Schreiben zu ihrem und anderer großen Nutzen bedienen; ja, ich kann wohl sagen, daß die Buchstaben die rechten Stäbe seien, darauf sich der Wohlstand aller Stände stützt, und, wenn man weitläufige Nachfrage hält, wer die Buchstaben zuerst erfunden und seine Gemüthsmeinung stillschweigend dem Nächsten zu entdecken den Anfang gemacht, so halte ich, daß die richtigste Antwort sei, daß solche wundersame und hochnützliche Erfindung von dem Geber und Urheber alles Guten den Menschen bald nach der Schöpfung verliehen sei; wie denn Josephus meldet, daß die Nachkömmlinge Seths, Adams Sohns, zwei Säulen aufgerichtet, darin sie allerlei herrliche Wissenschaften der Nachwelt zum Unterricht schriftlich hinterlassen. So redet nun unsere Stimme mit den Ohren, die Schrift aber mit den Augen, und habens die wilden Leute in der neuen Welt höchlich bewundert, daß auch ein Brief reden und eines andern Meinung dem abwesenden Leser entdecken könnte, dergleichen uns auch widerfahren würde, wenn uns das Lesen und Schreiben nicht so gemein wäre. Wie es nun aber mit andern Wohlthaten des Höchsten zugeht, daß je gemeiner, je geringschätziger sie uns werden, so gehts auch mit den Buchstaben zu. Ich frage euch alle, die ihr dies hört und leset, ob ihr je Gott für solche herrliche und hochnützliche Erfindung gedankt? Nehmet aber aus diesem Kinderbuch noch andere nicht kindische Gedanken. Dies Kind lernt erst die Buchstaben kennen, dann zusammensetzen, endlich lesen. Also laßt euch nicht verdrießen, daß ihr in eurem Christenthum werden müßt wie ein Kind. Mancher weiß weniger davon, als ein Kind, und will es doch nicht lernen als ein Kind. Nehmet euch zuerst vor eine Tugend, lernet dieselbe recht wohl kennen nach ihrer eigentlichen Art und faßt sie so tief ins Gedächtnis?, daß, wenn ihre Ausübung nöthig ist, zu allen Zeiten und an allen Orten es euch daran nicht fehle; hernach lernt eine Tugend mit der andern, .als den Glauben und die Liebe zusammen setzen, bis endlich aus vielen Tugenden ein ganz gutes und rechtschaffnes Christenthum werde. Laßt euer Tugend-ABC folgendes sein: Almosen geben, Beten, Christum lieb haben, Demuth, Einträchtigkeit, Frömmigkeit, Glaube, Hoffnung, Jesus (als das Vorbild aller Tugenden), Keuschheit, Liebe, Mäßigkeit, Nachfolge Christi, ohne Falsch sein, Predigt hören, Reinigkeit des Herzens, Sanftmuth, Todesgedanken, Unverdrossenheit, Wahrheit, Zorn nicht halten. Dieses letztere bringt mir zu Sinn, daß jener weise Heide dem Kaiser Augustus gerathen, so oft ihn der Zorn übereilen wollte, sollte er, ehe er etwas durch Antrieb desselben befähle oder thäte, sich zuvor so viel Zeit nehmen, daß er die Buchstaben des griechischen Alphabets hersagte, vermeinend, daß er indessen sich etwas besinnen und nichts Ungebührliches, darauf hernach die späte Reue erfolgte, vornehmen würde. Jener Kirchenlehrer hat hieraus ersonnen, einem Christen zu rathen, daß er wider den herrschenden Jähzorn ein andächtiges Vater Unser beten sollte, womit ers ohne Zweifel besser getroffen. Wenn wir nun dieses an solchem Kinderbüchlein allemal bedächten, würden wir gestehen müssen, daß wir es noch bisher nicht ausgelernt.
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