Die Ernte
Als Gotthold zur Erndtezeit vor einer Stadt mit etlichen guten Freunden spazieren ging, fing einer unter ihnen an und sagte: Lieber Gott! wie eilt jetzt schon alles, als bergab, dem betrübten und kalten Winter zu! Man hört nicht ein Vöglein mehr, die Lerche betrübt sich, da sie sieht das Getreide abmähen und wegführen und ihr ein leeres Feld hinterbleiben. Gotthold sagte hierauf: Die Vögel singen am meisten zur Frühlingszeit, im Sommer aber schweigen sie. Meines Erachtens hat es der fromme und milde Gott auch /darum so verordnet, daß uns im Frühling, da die lieben Früchte „erst im Wachsthum stehen und wir ihrer uns nur in Hoffnung freuen, die Vögel mit ihrem Gesang zum Lobe Gottes aufmuntern möchten; hernach aber, wenn wir beginnen, der mancherlei Gaben Gottes wirklich zu genießen und das liebe Korn mit vielen tausend Fudern in unsere Scheuern bringen, da schweigen die Vögel still, als hielten sie es für unnöthig, daß sie uns Gott zu preisen erinnern sollten, weil wir ja bei Genießung so mancherlei Güter den milden Geber derselben zu loben nicht vergessen werden. Seht euch jetzt um, ihr werdet hier und dorther ein Fuder Korn nach dem andern fahren sehen, meint ihr wol, daß der milde Vater, der das Korn aus der Erde wachsen läßt, für ein jedes ein dankbares Lob zu erwarten hat? da ihm doch für eine jede Aehre solches gebührt, weil aller Menschen Verstand und Vermögen ohne ihn nicht eine einige aus der Erde hervorbringen kann. Ich sehe die Aehren nicht anders an, als so viel tausend aufgereckte Finger, die gen Himmel weisen und mir Gott im Himmel zu loben Anlaß geben. Ach, heiliger Gott! wenn wir dich nur so lang loben, lieben und nach deinem Willen leben wollten, als du uns Gutes thust, so würde unser Herz von deiner Liebe, unser Mund von deinem Preise und unser Wandel von deiner Furcht nimmer ledig sein.
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