Die Ehrfurcht des Pawlo Ryssakow

Pawlo Ryssakow war schon sehr alt. Niemand wusste die Zahl seiner Jahre, und die Leute im Dorf überbrückten diese Ungewissheit, indem sie sagten, Pawlo hat selbst die vielen Jahre nicht gezählt, die seinen kleinen Körper noch kleiner und krummer gebogen haben. Aber dass er sehr alt war, sah man an einem von Falten zerschnittenen Gesicht, welches an einen kleinen zusammengeschrumpften Winterapfel erinnerte. Sein Kopf hatte etwas Wundersames an sich. Wer ihn zum ersten Male sah, glaubte sogar, dass dieser Kopf das einzig beachtliche an Pawlo Ryssakow war, und vor allem die schlohweiße Fülle lockiger Haare, die bis tief in den Nacken fiel, gab ihm eine beinah majestätische Würde. Man hätte meinen können, dass Pawlo Ryssakow das Haupt des ganzen Dorfes auf seinen Schultern trug. Aber da war wohl niemand mehr, der das so sah, denn ein Fremder, dem es hätte auffallen können, kam nicht  in diese einsamen verlassenen Hütten in der grenzenlos weiten Steppe; und die, welche ihn täglich sahen, kannten ihn alle, vom kleinsten Kegel bis zu Perowka, dem weisen Rangältesten des Dorfes, und fanden an Pawlo Ryssakow nichts Absonderliches, als dass er eben nur ein alter Knecht war, dem man die Ruhe der letzte Tage gönnte und dem man das Gnadenbrot ließ, bis ihn das alte, liebe Mütterchen Erde in ihren Schoß zog. 
Tagsüber sah man Pawlo Ryssakow selten. Nicht, dass er so lange schlief, nein, früh war er auf den Beinen, wie das schaffende Volk. Doch wenn die Sonne aus dem endlosen Meer der Gräser erwachte, sah sie oftmals seinen dunklen Schatten über die leicht wogenden Wipfel der Gräser und Blumen dahingleiten, irgendwohin in die Weite, die keine Ufer hatte - wie einen einsamen Kahn, der unstet, ziellos forttreibt, als ziehe die Steppe ihn in sich hinein, um ihre Einsamkeit mit ihm zu teilen. Manchmal aber ging er einen gewissen Pfad wie von einer Absicht getragen in eine bestimmte Richtung. Und da, wo er endete, etwa nach drei oder vier Stunden stiller Wanderschaft, war der Strom, der dunkelgraue, breite Strom, der wie ein strenger Herr, mächtig und schwer von Norden kam. Tief in den Boden gedrückt, als wolle er sich vor der Endlosigkeit des Landes verbergen, schob er sich mit seinem düsteren Leib zum Süden hinab, brütend und stöhnend. Aber er gehörte zu diesem Land wie der Wind, der die blühenden Gräser beugte und die braunen Wolken des Blütenstaubs trug, wie das Kreischen der Dohlen hinter den Hütten des Dorfes in einem verlassenen Baum und die sengende Sonne im Hochsommer mit ihrem zittrig heißen Atem, wie die schweren, trüben Wolkenwände mit ihren wochenlangen, erderweichenden Tränenströmen - und das Silberblitzen der Sterne. Der Strom gehörte zum Land wie der aus den Himmeln geworfene, alles erstarrende Frost und der alles gleichmalende Schnee - und wie die Balalaika zum Lied.
An den Ufern saß Pawlo Ryssakow und starrte hinein in die schweigende, geheimnisvolle Tiefe, brütete und stöhnte mit ihr, als wisse er, dass der Strom ihn besser verstände als die Menschen, als empfände er Ehrfurcht und Schluchzen des Wassers wie seine Einsamkeit. Viele Morgen hatten ihn dort gesehen, Mittage, Abende und Nächte. Pawlo ging zu dem Strom, wie andere Menschen zur Kirche gehen. Pawlo sprach wenig mit den Leuten seines Dorfes. Wenn am Feierabend sich das Volk, Jung und Alt, vor den Türen auf den Bänken einfand, wenn Lieder, die alten schwermütigen Lieder ertönten, die der Steppe und dem Strom verwandt sind, saß er abseits von den Menschen und den Hütten auf einem Hügel, und seine dunklen Augen verloren sich in der undurchdringlichen Finsternis der weiten, schweigenden Steppe.
Einmal gesellte sich an einem solchen Abend im August Dimitri Petrowitsch Perowka, der jüngste Sohn des Dorfältesten, zu ihm. Er war noch ein Jüngling an der Schwelle der Zwanziger und galt als kluger und verständiger Bursche, der schon wusste, was er wollte, und der wegen seiner Eigensinnigkeit bekannt war.
Lange saß Dimitri schweigend neben Pawlo Ryssakow. Der tat ganz so, als wäre er allein. Von der Straße herüber, zwischen den kleinen Hütten hindurch, vom Winde gedämpft, drangen die Lieder. Manchmal war's, als käme die Melodie von weither und stiege gleichsam von allen Richtungen auf wie ein Summen, Wimmern und Weinen der einsam ruhenden Steppe - wie ein eigentümlich fremdes Gebet, ein urtiefes Raunen der Erde an die Nacht.
Da klang mit einem Male wie ein heißer Atem die Frage des Burschen an das Ohr des Alten: "Väterchen, wo ist Gott?"
Pawlo Ryssakow hob seinen mächtigen Kopf ein wenig höher, als lausche er diesen Worten nach, und schien noch tiefer in die Nacht hineinzusinnen, so dass sich Dimitri Petrowitsch lange mit einem Schweigen gedulden musste.
"Weit ist er, Dimitri Petrowitsch!" Der volle Bass des Alten vibrierte ein wenig. Er zog die laue Nachtluft ein, als müsse sie ihn stärken für einen langen Satz. "Unendlich weit", begann er, "weiter als die Sterne, die du siehst, ist er. - Und nah, gefährlich nah, näher als ich dir und du mir, näher als die Lunge dem Herzen. Er weiß mehr von uns als wir selbst. Er ist überall, und nichts ist ohne ihn. Kein Mensch hat ihn je gesehen; denn unsere Sinne würden ihn nicht ertragen, weil er so heilig ist, dass wir seine Heiligkeit nicht einmal begreifen können. Alles, was wir von ihm sprechen, was wir von ihm denken, was wir von ihm wissen wollen, ist so gering, dass wir ihn entweihen, sobald wir den Mund auftun. Er ist unendlich in allen Dingen - in aller Ewigkeit. Ihn nur mit Namen und Worten zu erklären, wie könnte ich es wagen, es versuchen, ich geringer Wurm. Was bin ich, woher nähme ich dieses Recht? Könnte nicht Lüge darin sein? Und sicher müsste ich lügen, denn ich begreife ihn nicht. Über ihn darf man nicht so sprechen Dimitri - nicht so fragen wie du! Aber schweigen und lauschen dürfen wir. Horch einmal - der Wind. Und sieh einmal - der Raum, der uns von den vielen Sternen trennt. Wie groß mögen sie wohl sein? Etwas von seinem Willen lebt in allem, was er geschaffen hat. Vielleicht darf ich sagen: Etwas von ihm!? Doch wer will sagen wie viel!? Denn das Ganze zusammen ist nicht einmal ein Stück von ihm. Größer ist er, viel größer, unvorstellbar groß. Das Land und die Steppe, die weite Steppe; du kannst tagelang, wochenlang gehen, und sie hat doch kein Ende. Wo sie aber zu Ende ist - vielleicht dort, wo die riesigen schwarzen Wälder beginnen oder das Meer, und wo dieses wieder zu Ende ist, fragst du erneut: Wo ist er? - Die Erde ist rund, Dimitri, und einmal wirst du, wenn du immer weiter gehst, wieder hier sein, hier; sag', wen suchest du? Wen fandest du? - Auch die hohen Berge haben ihre Gipfel, und wenn du sie erklommen hast, kannst du wohl weit übers Land sehen, aber die Sterne sind noch genau so fern, - als ständest du in einem tiefen Tal, und du kannst nicht höher, und du musst wieder hinab. Sie kommen nicht näher die Sterne. - Und wenn du zum Strom gehst und ihn fragst? - Er zeigt nach Mittag und weit gen Mitternacht - und schweigt. Vielleicht weiß er ein wenig mehr als wir Menschen. Wir fragen zu laut und reden zu viel, Dimitri!" -
"Aber Gott ist doch unser Vater, der uns liebhat; denn Gott liebt alle Dinge, die er geschaffen hat, Väterchen!"
"Halt ein! Dimitri Petrowitsch! Schon einmal hast du seinen heiligen Namen ausgesprochen! Das war genug! Warum nennst du ihn noch einmal?!"
"Nennst du niemals seinen Namen?"
"Hör zu, ich will dir die Antwort erzählen. - Ich war noch ein kleiner Knabe. Mein Vater hatte einen großen Hof, viele Tagesreisen von hier. Ich weiß das nicht mehr, aber die Leute, bei denen ich aufwuchs, haben es mir erzählt. Mein Vater starb, ehe ich geboren wurde. Meine Mutter war eine selbstständige Frau. Sie war die Herrin des Hofes. Sie fluchte und schimpfte viel mit den Knechten und Mägden. Ständig hatte sie den heiligen Namen auf den Lippen, bei jedem Fluch, täglich vielhundertmal. Eines Tages kam ein fremder Mann zu uns. Er war auf der Durchreise und wollte für eine Nacht Unterkunft finden. Uns gehörte der größte Hof im Dorf, darum kam er zu uns. Als er hörte, wie meine Mutter fluchte und schimpfte, empörte er sich darüber und sprach, sie solle ihre leichtfertige Zunge zügeln, und als sie ihn auslachte, verließ uns der Fremde und suchte sich eine andere Schlafstelle. In der gleichen Nacht ging ein heftiges Gewitter nieder. Der Blitz schlug in unser Haus, und alles verbrannte. Auch meine Mutter verbrannte. Nur ich wurde gerettet. Die Nachbarn haben mir's erzählt, denn ich war noch sehr klein. -
Nun weißt du, Dimitri Petrowitsch, warum ich dieses Wort nie nenne. Es ist mehr als ein Wort, es ist sein Name, und er hat geboten, dass wir ihn heiligen sollen. Doch wenn ich ihn mit diesen meinen Lippen nenne, die auch andere, unwürdige Worte gebrauchen, entheilige ich ihn."
Der Alte schwieg. Die Lieder waren verklungen, und die Nacht war heller geworden, denn das Mondlicht zog leuchtend durch die Sterne.
"Betest du nicht?", fragte der Bursche nach einer Weile.
"Dimitri Petrowitsch Petrowka, ich bete!", kam leise und feierlich die Antwort. "Für dich und für die anderen bete ich, für die Kranken, für die hungernden Tiere im Winter. Doch wie sollte ich es wagen, für mich zu bitten, ich für mich selbst, Dimitri, wie klingt das? Ich bin zu gering, dass ich für mich bitten sollte! Was bin ich wert? Aber ich bete täglich, täglich zu Christus, und zu ihm darf ich gehen, denn er sagt mein Bitten dem Vater und bittet auch für mich. Er fängt die Unsauberkeit meiner Stimme und Worte auf, er reinigt meine Bitten durch sein Blut, dass sie bestehen dürfen, vor dem Vater.
Darum gehe ich oft an den Strom. Und ehe ich bete, schau ich mich an, im Spiegel seiner Fluten, des Nachts. Dann sehe ich meinen Kopf und dahinter die Sterne in dem unendlichen Raum. - Damit ich die Demut nicht vergesse, nicht vergesse, wie klein, wie winzig ich bin. Was ich bin vor ihm, dass ich so unbekümmert seinen Namen nennen dürfte, Dimitri Petrowitsch?"
Einsam lag das Dorf in der nächtlichen Steppe, verloren in der Unendlichkeit des Landes. Doch der Himmel wölbte sich darüber - wie allerorts. Der Mond leuchtete, als Pawlo Ryssakow sich erhob. Sein weißes Haar glitzerte wie Gräser im Morgentau, als er leise den langen Pfad zum Strom schritt. Und die Sterne begleiteten ihn.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
© Alle Rechte vorbehalten