Die Distel
Gotthold ging bei einem Weizenacker vorüber und sah, daß unter dem Weizen sich viele Disteln fanden und mit demselben in die Wette wuchsen. Die Welt, sagte er zu einem guten Freunde, der bei ihm war, will fromm sein und hier sieht man doch, daß noch jetzt in der Welt gesündigt wird. Denn wie die Distelköpfe zur Strafe der Sünde gehören, also halte ich dafür, daß, so bald die Welt fromm wird (wie sie will angesehen sein) und nicht mehr sündigt, sobald werden alle Disteln vergehen und verschwinden müssen; allein, so lang die Welt selbst ein Disteltopf ist, voll giftiger Stacheln, auf alle Bosheit abgespitzt, daß man sie ohne Schmerzen nirgends fassen kann, so lang wird sie sich auch über Disteln und Dornen im Acker nicht beschweren dürfen. Merket aber weiter; wie der beste Acker nebst dem Weizen viele Disteln trägt, so giebt es insgemein böse Einwohner und gottvergessene Leute, wo die rechten Schmalzgruben, ein tragbares Land, beständiger Friede und aller Dinge Ueberfluß sich findet. Denn des Menschen Herz ist so böse, daß es auch das Gute ohne Bosheit nicht vertragen kann. So geht es auch mit den sinnreichen Gemüthern zu, die insgemein nebst gutem Weizen nützlicher Rathschläge und zuträglicher hoher Gedanken viele Disteln der Thorheit und gefährlicher Irrthümer tragen und hegen. Denn große Leute fehlen auch, Ps. b2, 10., und begehen nicht geringe Thorheit, welches Gott zuläßt, damit er den Ruhm der vollkommnen Weisheit für sich allein behalte und uns zeige, wie vergeblich und gefährlich es sei, sein Vertrauen auf Menschen setzen. So ist es auch mit unserm Herzen bewandt, welches zwar zuweilen, durch Gottes Gnade und Geist befeuchtet, gute Tugendfrüchte zu tragen beginnt, aber ach, wie viele Disteln und Unkraut wirft der Feind dazwischen und wie viel wächst selbst nach Art des bösen Landes! Und dies läßt der Höchste abermals zu, daß er das Vertrauen auf eigne Heiligkeit niederlege und auch der heiligste Mund sagen müsse: Herr, du bist gerecht, wir müssen uns schämen. Dan. 9, 7. So geht es endlich mit unserm Glück und zeitlichem Wohlstand zu; wenn unser Weizen aufs schönste steht und wir frisch darein zu schneiden und mit vollen Garben ihn einzuführen vermeinen, so hat der Höchste Disteln lassen darunter wachsen, ich will sagen, er hat das Glück mit einem Unglück vermengt, damit wir lernen, daß wir in der Welt leben, da nichts Beständiges zu erwarten, und um desto eher und mehr nach dem Himmel uns sehnen mögen. Mein Gott! in der Welt ist keine Weisheit ohne Thorheit, kein Glück ohne Unglück, keine Frömmigkeit ohne Sünde, kein Gutes ohne Böses, kein Brauch ohne Mißbrauch. Hilf mir dahin, wo du bist, an dir ist nichts Böses, an dir werde ich Alles haben, du wirst alles in allem sein! 1. Cor. 15, 28.
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