Die Demut bleibt vor Gott.

Ein ehemaliger Rittmeister hatte ein schlesisches Gut gekauft.
Das lag einem anderen benachbart, auf dem ein Adelsmann wohnte: Ein geachteter Freiherr, dem Evangelium zugetan als einer der "Stillen im Lande", barmherzig, gerecht und aufrecht vor Menschen und Staat. Für seine Demut war er weithin im Lande bekannt.
Dem Rittmeister lag aber nicht die Ehrfurcht vor Gott. Ihn zog es vielmehr zu dem Witz zeitkluger Leute, die sich am Frommsein anderer mit überlegenem Spott trieben. Als er durch die Wälder und Wiesen zu seiner Antrittsvisite ritt, fand er ein Schäflein, allein, das blökend die Herde suchte.
Selbstbewusst trat er ein, mit überlegener Miene und plauderte lange drauflos. Dann kam es: "Als ich herritt, Herr Baron, sah ich ein Lämmlein im Walde, das von seiner Herde verirrt war. Da wäre es wohl gut, darum zu beten, dass Gott es zum Stall heimleite. Denn er nimmt sich doch gern der Lämmer und Hammel und besonders der Ochsen an."
Da erhob sich langsam vom Schreibtisch die mächtige Gestalt des Freiherrn. Schweigend, in Beherrschung, schritt er zur Tür, sperrte sie auf, sah grimmig den Gast an und wies ihn mit unmissverständlicher Miene hinaus.
Verlegen und zögernd schaute der Rittmeister ihn an. Aber der Arm an der Tür schien Lust zum Hinauswurf zu haben. Der Rittmeister ging. Als er im Flur war, fragte er mit der restlichen Frechheit unsicher: "Und wo bleibt die Demut?"
"Vor Gott!", war die Antwort. Und knallend schloss sich die Tür.

Quelle: Hört ein Gleichnis, Heinz Schäfer, Beispiel 405
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