Die Brosche aus dem Suppenknochen
In Kakola, dem großen finnischen Zuchthaus, hatte Mathilda Wrede, "der Engel der Gefangenen", oft einen Mann besucht, der zu lebenslänglicher Haft verurteilt war, und ihm in seinen schweren Seelenkämpfen geholfen. Einst bat er sie, ihm auf kurze Zeit ihre Brosche zu geben? "Was wollen Sie damit anfangen?" - "Fragen Sie nicht! Nach einer Stunde werden Sie Ihre Brosche unbeschädigt zurückbekommen." So geschah's auch.
Als sie nach einiger Zeit den Mann wieder besuchte, überreichte er ihr stillschweigend eine Brosche, der ihrigen vollkommen gleich, nur anscheinend aus Elfenbein. "Wie hübsch ist das! Ist das Ihre Arbeit? Woher haben sie das Elfenbein dazu bekommen?" "Das ist kein Elfenbein. Vor vielen Monaten fand ich diesen Suppenknochen und dachte sogleich: Daraus soll Mathilda Wrede eine Brosche haben! Der Knochen hat lange Zeit in der Sonne gelegen, denn Sie sollte alle Fettbestandteile heraussaugen und den Knochen ausdörren. Dann habe ich ihm die Form Ihrer Brosche gegeben. Erfreuen und schmücken wollte ich Sie!" Mathilda hielt die Gabe in der Hand, und helle Tränen liefen ihr über die Wangen. Tief ergriffen und dankbar stand sie da.
Der Gefangene betrachtete sie eine Weile, und dann sprach er Worte, die sie nie vergessen konnte. "In den Suppenkessel der Zuchthäuser geraten wohl keine auserwählten Leckerbissen. Anzunehmen ist, dass dieser Knochen von einer alten Kuh stammt. Aus demselben hat ein lebenslänglich Gefangener Ihnen einen Schmuck verfertigt. Ein lebenslänglich Gefangener ist selbstverständlich etwas sehr Niedrigstehendes und schlechtes in der Welt. Sie sagten jedoch, dass der große Gott auch einen solchen, wie ich bin, vollkommen erlösen kann. Die Sonne seiner Liebe kann auch alle meine Sünden weg brennen, gleichwie die Kraft der Sonne den Knochen gereinigt hat. Der Räuber am Kreuze wurde auch von Jesus ins Paradies berufen. Der Herr hat auch für mich einen Platz in seinem Reiche. Ein großer, aber erlöster Sünder kann zu einem Edelstein in seiner Krone werden, gleichwie der alte, ausgekochte Knochen aus der Suppe der Gefangenen ein wertvoller Schmuck für Sie geworden ist".
Nach: I. M. Sick, "Ein Engel der Gefangenen".
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