Die blühende Roggenähre
Die Erfahrung bezeugts, daß, wenn der Roggen in der Blüthe steht und man eine Aehre abbricht, die Blüthe ihr abstreift und sie eine Weile in den Händen trägt, aus derselben andere Blumen wieder hervor kommen. Als nun Gotthold hievon mit einem guten Freunde redete, der sich darüber verwunderte und die Ursache gern gewußt hätte, sprach er: Man kann in allen Dingen zu seiner Zeit eine treibende und dringende Kraft wahrnehmen. Aus dem Kornlein im Acker treibt die Natur ein Keimlein und ein Hälmlein, und zwar durch die harte Erde. In den Bäumen ist ein Nachdruck, der den Saft erregt und Blätter, Blumen und Früchte aus dem harten Holz treibt. In dem beschnittenen Weinstock und seinen Reben wird der Saft aufwärts getrieben, und wenn er wegen des Abschnittes nicht Raum findet, so ergießt er sich, als wenn er weinte. Eine solche Kraft ist auch in diesen Aehren, so stark, daß sie auch in der abgerupften Aehre die Blüthe ein und andermal zu erneuern genugsam ist. Ein anderer mag nun dieses nennen und beschreiben, wie er will, so sag ich, es sei die dringende und nimmer ruhende Güte Gottes, die stetig wirkt, treibt, wachsen macht und dem Menschen zum Besten nimmer stille ist. Was ihr aber an den Gewächsen seht, das muß sich bei euch selbst auch finden; welche der Geist Gottes treibt, spricht der Apostel, Rom. 8, 14., die sind Gottes Kinder. Fürwahr, die Kraft des Geistes Gottes ruht nicht, sie erregt und bewegt stets die frommen Herzen. Hieraus entstehen heilige Gedanken, gottselige Begierden, himmlisches Verlangen, sehnliche Seufzer, liebreiche Thränen, andächtiges Gebet, unermüdeter Fleiß, Gott und dem Nächsten zu dienen; hier folgt eine Blume der andern, eine Andacht der andern, eine Liebe der andern, eine Freude der andern. Empfindet ihr solches nicht, so lernet heute an diesem schlechten Halm, daß die Schuld an euch ist, und daß ihr den Trieb des Geistes Gottes entweder nicht achtet, oder ihm nicht folgt. Mein Herr Jesu! was kann ich ohne deine Kraft? was vermag ich ohne deinen Geist? Treibt er nicht in mir die geistlichen und innerlichen Krafte, so ist bei mir weder Wollen, noch Vollbringen. So treibe nun mich, mein Gott! hilf aber auch, daß ich deinem guten Triebe willig folge.
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