Die betenden Kinder
Etliche Bluts- und Muthsverwandte waren auf eine Mahlzeit und freundliches Gespräch zusammen gekommen; als sie nun ihre Freundschaft auch auf ihre Kinder gern vererbt hätten, ließen sie dieselben zusammen bringen, daß sie in der Eltern Gegenwart an einem sonderlichen Tisch speisen und hernach in einer Reihe, nach ihrem Alter ordentlich stehend, beten mußten. Nach verrichtetem Gebet fing Gotthold an und sagte: Meine Herzensfreunde! lasset uns doch bedenken, was dies für eine Gnade und Freude sei, die uns bösen Vätern der fromme Vater im Himmel gönnt; seht, diese unsere Kinder sind wie die schönsten Blumen und lieblichsten Pflanzen; sie haben ihre gesunden und wohlgestalteten Glieder, ihre hellleuchtenden Augen, ihr richtiges Gehör, ihren feinen Verstand, ihr gutes Gedächtniß, ihre fertige Sprache, ihr fähiges Gemüth, ihre geschwinden Füße, ihre kindfreundlichen Geberden, ihr holdseliges Spielwerk, damit sie uns manche Sorge und Gedanken vertreiben, ja man spürt an ihnen den Trieb des in ihnen wohnenden H. Geistes, der oft Gebet, Seufzer, gottselige Einfälle und heiliges Verlangen in ihnen wirkt. Ach, laßt uns ja erkennen, daß Kinder eine Gabe Gottes sind und Leibesfrucht ein Geschenk. Ps. 127, 3. Laßt uns aber auch dahin sehen, daß wir diese uns anvertrauten köstlichen Gaben durch Verzärtelung, durch üble Erziehung, durch böse Exempel und Aergerniß nicht versäumen oder verderben. Es lassen oft große Herren und andere reiche Leute aus fremden und weit entlegnen Ländern schöne Blumen, Kräuter und Pfropfreiser bringen, die sie ihren Gärtnern zu fleißiger Aufsicht und Wartung vertrauen; wenn nun aber ein solcher Herr sollte in seinen Lustgarten kommen und sehen, daß durch des Gärtners Unfleiß und Faulheit eine kostbare Blume vom Unkraut erstickt, ein edles Kraut mit Gras bewachsen und ein junger Baum von Epheu, wildem Hopfen und Zaunkletten umrankt und beschwert wäre, was meint ihr, würde der Gärtner für einen Dank zu erwarten haben? Nun hat uns Eltern auch Gott diese Himmelspflanzen anvertraut, die durch seine Gnade gewachsen, durch das Blut Christi in der Taufe befeuchtet und mit der Gabe des H. Geistes besaftet sind. Weh uns! so wir sie versäumen, so wir sie durch Nachlässigkeit verwildern und vom Unkraut der Bosheit verderben lassen! hier ist das liebe Gebet, gute Zucht und ein gottseliges Exempel das Beste. Mein Gott und Vater! ich will nicht sagen, daß meine Kinder mein sind, sondern sie sollen dein sein und heißen; ich untergebe sie deiner heiligen Regierung, väterlichen Fürsorge, mächtigem Schutz und reichem milden Segen. Indessen will ich dein Gärtner sein und mit allem Fleiß, zuvörderst mit Seufzern und Thränen ihrer warten, und so wirds mir, wie ich hoffe, nicht fehlen.
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