Die beste Vorlesung über das Alte Testament
Wilhelm Busch erzählt: Eines Tages besucht mich in Essen ein Privatdozent für Altes Testament an einer süddeutschen Universität. Der kommt von einer Orientalisten-Tagung in Bonn und will bei dieser Gelegenheit das Industriegebiet kennen lernen.
Ich führe ihn durch das Kruppwerk. Wir besichtigen eine Zeche. Als wir über den Zechenplatz gehen, sehe ich den "Vater Weihe" daherkommen. Schon von weitem erkennt man ihn an seiner hohen, ungebeugten Gestalt, an dem derben Knotenstock und vor allem an der seltsamen Kosakenmütze. Er ist ein pensionierter Bergmann. Ich liebe ihn sehr, weil er ein rechter Jesusjünger ist, ein vollmächtiger Mann, in dem der Heilige Geist Gestalt gewonnen hat.
"Herr Doktor!", sage ich zu dem Privatdozenten, "Dort kommt ein Mann, den müssen Sie unbedingt kennen lernen."
Wir begrüßen einander. "Vater Weihe," sage ich, "dieser Herr lehrt Studenten das Alte Testament kennen."
"So?", sagt Vater Weihe. "Dann wünsche ich Ihnen nur, dass Ihnen das Alte Testament so viel wert ist wie mir." Dabei schaut er den Gelehrten scharf an.
Der ist etwas erstaunt, dass ein einfacher Bergmann sich als Kenner des Alten Testaments ausgibt. Etwas unsicher fragt er: "Was haben Sie denn im Alten Testament gefunden?"
Da richtet sich Vater Weihe auf und sagt mit großem Ernst: "Wenn dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elend." Nur diesen einen Satz aus dem 119. Psalm sagt er. Dann zieht er seine Kappe und stapft ohne ein weiteres Wort davon.
Der gelehrte Mann schaut ihm nach. Dann atmet er tief auf: "Das war die beste Vorlesung, die ich je über das Alte Testament gehört habe."
© Alle Rechte vorbehalten