Die beste Empfehlung

Johannes Röber und seine Frau waren gute, liebe Menschen, wie man sie selten findet. Sie nahmen sich beide der Not Leidenden und Bedürftigen an, so sehr sie nur konnten. Und sie gaben nicht nur von ihrem Überfluss, sondern ließen sich diese Wohltaten mitunter sogar persönliche Opfer kosten. Ihre Freunde, die dies bemerkten, rieten ihnen öfters, doch etwas zurückhaltender in ihrer Freigebigkeit und Gutmütigkeit zu sein. Dann antwortete Röber aber stets:
"Ich sorge mich nicht darum. Für Martha und mich wird schon genug zum Lebensunterhalt übrigbleiben. Was wir den Armen geben, leihen wir dem Herrn, und wenn trübe Tage kommen, wird er es uns vergelten."
Trübe Tage kamen denn auch, aber erst, nachdem Vater Röber siebzig Jahre alt geworden war. Sein kleines Geschäft als selbständiger Handwerker warf nicht mehr genug zum Unterhalt ab, und so geriet er in Schulden. Um sich zu entlasten, musste er ein Darlehen aufnehmen. Ein Geldmann der nächsten größeren Stadt namens Bernhard Stein gab ihm eine Hypothek von 2000 Mark auf sein Häuschen. Röber zahlte die Zinsen regelmäßig und schien so wieder aller Sorge enthoben zu sein. Da starb plötzlich der alte Stein, und sein Sohn, ein härtherziger, gewinnsüchtiger Geschäftsmann, trat die Erbschaft an. Er kündigte bald darauf Vater Röber die Hypothek und forderte kurzfristige Rückzahlung der Summe.
Der alte Mann geriet in nicht geringe Bestürzung und Verlegenheit. Er bat daher unverzüglich Stein jun. um Verlängerung der angesetzten Frist. Doch dieser bestand auf seiner Forderung und fügte herzlos hinzu: Wenn er bis zu der bestimmten Zeit nicht im Besitz seines Geldes wäre, hätte Herr Röber am längsten in seinem Hause gewohnt.
"Martha", sagte der alte Mann entmutigt zu seiner Frau, "der junge Stein ist ein harter Mann. Er hat mich in seiner Gewalt, und ich fürchte, er wird sich nicht scheuen, sie schonungslos gegen mich anzuwenden. Ich glaube, es ist besser, ich suche ihn einmal persönlich auf und trage ihm unsere Notlage vor. Vielleicht hat er doch ein wenig Mitleid mit zwei alten Leuten und macht uns die Rückzahlung unserer Schuld leichter."
"Aber, Johann, du bist das Reisen nicht gewohnt, und bis nach Eckstadt sind es 160 Kilometer. Dazu bist du alt und schwach", entgegnete seine Frau besorgt.
"Das ist wahr, Frau, aber ich kann ihm mündlich viel mehr sagen, als ich ihm schreiben kann, und dann wohnt ja auch Ludwig Kronberg dort, wie wir erst neulich hörten. Ich nahm mich seiner an, als er ein armer Junge war. Vielleicht kann er mir jetzt, wo ich in Not bin, raten und helfen."
Schließlich sah auch seine Frau ein, dass es das beste sei, wenn er ihren Gläubiger selbst aufsuchte, und voller Sorgfalt traf sie die nötigen Vorbereitungen für die Reise ihres Mannes.
Als Röber am nächsten Tage aufbrach, war es trotz des Spätherbstes warm und sonnig. "Johannes", rief seine brave Frau, als er das Haus verließ, "sei immer recht vorsichtig und halte dich auf der Bahn beim Ein- und Aussteigen gut fest!"
"Sei ohne Sorge, ich will vorsichtig sein, nur sei du's zu Hause auch, Martha", erwiderte der alte Mann und eilte aufgeregt dem Omnibus zu, der unweit des Hauses hielt, um zum Bahnhof zu fahren.
Aber gleich von Anfang seiner Reise an verfolgte ihn das Missgeschick. Der Omnibus war schwer beladen, und während der Fahrt auf der holprigen Straße brach eins der Räder, was solchen Aufenthalt verursachte, dass Vater Röber den Morgenzug verfehlte. Der nächste ging erst in mehreren Stunden. Am späten Nachmittag konnte er endlich abfahren. Vom langen Warten war er ganz ängstlich und müde geworden. Deshalb wandte er sich unterwegs an den Schaffner, der gerade durchs Abteil schritt, mit der Frage: "Wie weit ist's noch bis Eckstadt?"
"Halb neun kommen wir dort an", war die Antwort.
Herr Röber schien noch eine Frage stellen zu wollen, aber der Schaffner war bereits ins nächste Abteil gegangen. Der alte Mann blickte sich hilflos um, dann lehnte er sich zurück, wobei er unverständliche Worte vor sich hinmurmelte. Bald kam der Schaffner zurück. Herr Röber schien darauf gewartet zu haben; denn er sprach ihn sogleich an: "Herr Schaffner, ich möchte nach Eckstadt:" Würden Sie so freundlich sein, mir zu sagen, wann ich aussteigen muß?" Ich fahre selten auf der Bahn und bin noch nie in Eckstadt gewesen."
"Machen Sie sich keine Sorgen", war die höfliche Antwort, "ich werde es Ihnen rechtzeitig sagen, wenn wir nach Eckstadt kommen. Ich werde Sie nicht vergessen."
Diese Versicherung beruhigte den alten Mann völlig, so dass er bald darauf in seiner Ecke einschlief.
Ein schlanker, hübscher, junger Mann namens Albert Gregorius saß ihm gegenüber. Seine listigen Augen in dem fein geschnittenen Gesicht fielen sofort auf, ebenso der böswillige Zug um den Mund. Als er sah, dass der alte Mann eingeschlafen war, stieß er seinen Nachbarn an und flüsterte ihm zu: "Ernst, dem Alten werde ich einen Streich spielen. Das gibt einen Riesenspaß."
Der Zug eilte rastlos dahin. Die Dämmerung sank hernieder, und bald wurden die Abteile erleuchtet. Der alte Mann schlief noch immer, bewacht von seinem auf eine günstige Gelegenheit lauernden, ränkesüchtigen Gegenüber und dem anderen "bösen Buben", der sich schon aus Vorfreude über den geplanten Streich frohlockend die Hände rieb.
Schließlich mäßigte der Zug seine Geschwindigkeit. Er näherte sich einer Station. Albert Gregorius stand auf und rüttelte Herrn Röber heftig. "Wachen Sie auf, wachen Sie auf!", rief er ihm laut ins Ohr. "Wir sind in Eckstadt, Sie müssen hier aussteigen!"
Der alte Mann, so unsanft aufgeweckt, fuhr von seinem Platz auf und blickte erschreckt um sich. Der Wechsel von Tag zu Nacht, das ungewohnte Erwachen im Eisenbahnzuge und das Gefunkel der Lichter auf der Station machten ihn ganz verwirrt.
"Was sagten Sie, junger Mann?", fragte er hilflos, als der Zug anhielt.
"Dies ist Eckstadt, wo Sie aussteigen wollen, beeilen Sie sich, oder Sie fahren vorbei!", schrie ihn der junge Mann an.
Der Lärm der Bremsen, das Rufen der Ein- und Aussteigenden, die Ablenkung der Mitreisenden durch die Ankunft auf der neuen Starion sowie ihre mangelnde Ortskenntnis verhinderten es, dass das grausame Spiel der Jünglinge entdeckt und vereitelt wurde. Herr Röber wusste, dass nicht der Schaffner ihn geweckt hatte, aber er dachte, dass der junge Mann diese Strecke wohl gut kenne, und eilte zitternd vor Aufregung nach der Tür. Fast am anderen Ende des Bahnsteigs hörte er den Namen der Station, der dem Namen Eckstadt jedoch ganz unähnlich war, aber Herr Röber merkte es nicht. Er ging auf die Treppe zu, und ehe erseinen Irrtum entdeckend, hätte zurückgehen können, setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Albert Gregorius war ganz außer sich über seinen geglückten Streich. Er brach in lautes Gelächter aus, in das sein Gefährte einstimmte.
"Du meine Zeit, wie kann man sich auch so auf den Leim locken lassen! Es war doch ein zu lustiges Bild, nicht wahr, Ernst?" Auch Ernst fand es spaßig und lächerlich.
Keiner der beiden bemerkte, dass für den armen, betrogenen Herrn Röber ein vornehmer Herr in mittleren Jahren eingestiegen war, der mit auf ihrer Seite saß, da einer der übrigen Mitreisenden Herrn Röbers Platz eingenommen hatte. Er schien ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein, hörte aber doch jedes Wort, das die beiden sprachen.
Sie konnten sich über ihren gelungenen Streich noch immer nicht beruhigen. "Haha!", wandte sich Gregorius unter schallendem Gelächter an seinen Freund, "Ich dachte doch, der alte Tölpel würde den Namen der Station rufen hören und nicht weiter als bis zur Tür gehen. Nein, welch ein Bild, als er so schnell hinauskletterte und verschwand. Dem hätte ich alles mögliche erzählen können, er hätte es geglaubt! Welch köstlicher, alter Dummkopf!"
So ging ihre Unterhaltung in immer neuen Spottreden herüber und hinüber. Als ihnen dann der Streich keinen Reiz zu Witzen, Spötteleien und Gelächter mehr bot, wurden sie ruhiger, und Gregorius fing an, von seinen Plänen und Aussichten zu sprechen.
"Ich glaube nicht, dass du dort sehr gute Aussichten hast. Man sagt, Herr Kronberg nehme es sehr genau",
hörte der zuletzt zugestiegene Reisende Ernst seinem Freunde erwidern.
"Ach, schweig doch!", rief Gregorius, "'genau' - das ist gerade recht und macht meine Aussichten nur noch besser! Ich habe solche Empfehlungen, wie sie ein genauer Mann verlangt."
"Aber es werden sich noch viele andere junge Leute um diese Stellung bewerben", gab Ernst zu bedenken.
"Sei unbesorgt, und wenn es fünfzig sind, ich übertreffe sie alle", sagte Gregorius heftig. "Ich habe Zeugnisse und Empfehlungen von Prof. Hübner, Ingenieur Land, Dr. Kummer und der großen Firma Immermann & Co., deren ausgezeichnete Empfehlungen allein genügen würden, mir diese Stellung zu sichern."
Bei dieser Bemerkung blickte der vornehme Herr von seinem Notizbuch auf und warf rasch einen forschenden Blick auf Gregorius. Doch dieser merkte es nicht. Er hatte sich in großen Eifer geredet und wies lebhaft alle Einwände seines Gefährten zurück, was nur zu deutlich seine eigene Unsicherheit bewies. Er empfand jedoch selbst, dass er mit seinem heftigen Widerspruch seinem Freunde zu nahe trat, und so lenkte er das Gespräch wieder auf den tollen Streich zurück, worüber sich ja auch Ernst so köstlich belustigt hatte.
"Ich möchte wissen", begann er, "wo der alte Mann jetzt steckt. Ob er schon ausfindig gemacht hat, wo Eckstadt ist? Was meinst du? War es nicht spaßig, wie verwirrt er umherglotzte, als ich ihn aufrüttelte? Ach, dies Bild, als er zur Tür trippelte und hinauskletterte! Ich habe noch nie etwas so Komisches gesehen."
Der Herr blickte wieder auf und schaute Gregorius unwillig an. Schon wollte er ihm einen ernsten Verweis geben, aber er sagte doch nichts. Ein besonderer Grund mochte ihn abhalten. -
Herr Röber hatte sich auf dem Bahnsteig inzwischen an einen Postschaffner, der dort beschäftigt war, gewandt mit der Frage: "Können Sie mir sagen, wo die Sophienstraße ist, in der sich das Bankgeschäft des Herrn Stein befindet?"
"Eine Straße dieses Namens gibt's nicht in diesem Städtchen", antwortete dieser.
"Was, ist das nicht Eckstadt?", fragte Röber bestürzt.
"Nein, hier ist Zitterau."
"Ach, dann bin ich auf einer falschen Station ausgestiegen! Was soll ich jetzt anfangen?", klagte der alte Mann in tiefer Niedergeschlagenheit.
"Sie gehen am besten in einen Gasthof und fahren morgen mit dem Frühzug weiter", sagte der Postschaffner freundlich.
Es blieb keine andere Wahl. Der alte Röber verbrachte eine ruhelose Nacht, und am anderen Morgen war er in aller Frühe schon wieder auf dem Bahnhof und wartete auf den Zug. Sein Gesicht war bleich, seine Augen blickten müde und traurig. "Meine Reise hat schlimm angefangen", sagte er bekümmert vor sich hin, "zuerst brach ein Rad am Omnibus, und ich verfehlte dadurch den Zug. Nun hieß man mich noch auf einer falschen Station aussteigen. Ich fürchte, dass meine Reise auch ein schlimmes Ende nehmen wird."
Unter den Reisenden, die auf den Zug warteten, befand sich ein treuherzig aussehender, freundlich blickender, junger Mann, der mit seiner in Schwarz gekleideten Mutter auf dem Bahnsteig langsam auf und ab ging. Als diese Herrn Röber bemerkte, sagte sie zu ihrem Sohn: "Otto, sieh den bleichen, traurigen, alten Mann. Vielleicht kannst du ihm etwas behilflich sein."
Da ertönte ein lauter Pfiff. Der Zug kam an. Otto verabschiedete sich herzlich von seiner Mutter und ging auf Herrn Röber zu. "Gestatten Sie, daß ich Ihnen behilflich bin?" ,fragte er höflich. Dann fasste er ihn am Arm, half ihm in den Wagen und suchte ihm einen Platz.
Herr Röber dankte erfreut und fügte hinzu: "Ich bin alt und im Reisen unerfahren. Ein wenig Hilfe kann ich gut gebrauchen. Wohin fahren Sie, wenn ich fragen darf?"
"Nach Eckstadt", erwiderte Otto. "Ich las gestern in der Zeitung eine Anzeige, dass eine dortige Firma einen jungen Mann sucht. Ich will mich vorstellen und mich um die Stelle bewerben. Mein Name ist Otto Weber."
"Da wünsche ich Ihnen guten Erfolg, denn ich glaube, Sie sind ein guter Mensch. Ich fahre auch nach Eckstadt und will das Bankhaus Stein aufsuchen. Auf meiner Reise habe ich schon zweimal Unglück gehabt. Ich bin besorgt, was das nächste sein wird."
"Ich kenne Eckstadt gut und werde Sie gern zu dem gewünschten Geschäft führen", erbot sich Otto Weber sofort freundlich und hilfsbereit.
Nach einer halben Stunde kamen sie in Eckstadt an. Otto half Herrn Röber aus dem Zuge und führte ihn zum Bankgeschäft des Herrn Stein. Der alte Röber dankte herzlich und fragte dann: "Können Sie mir vielleicht auch sagen, wo das Geschäft des Herrn Ludwig Kronberg ist?"
"Ach, das ist ja die Firma, zu der ich gehen möchte", sagte Otto erstaunt. "Sie befindet sich drei Straßen weiter im Haus links um die Ecke."
Röbers Züge hellten sich auf. Er drückte warm dem jungen Mann die Hand. "Herr Kronberg kennt mich", sagte er zum Abschied. "Ich will ihn auch noch besuchen. Ich bin Ihnen für Ihre Freundlichkeit sehr dankbar und
wünschte, ich könnte etwas für Sie tun. Ich hoffe, dass Herr Kronberg Ihnen die Stellung gibt, denn Sie sind es wert. Wenn Sie vor mir zu ihm kommen, so sagen Sie ihm, dass der alte Johann Röber Ihr Freund sei. Auf Wiedersehen!" -
Eine Viertelstunde später befand sich Otto in dem Geschäftszimmer des Herrn Kronberg. Albert Gregorius war kurz vor ihm angekommen. Der Kaufmann war soeben sehr beschäftigt und bat die jungen Leute, einen Augenblick Platz zu nehmen und zu warten, bis er fertig sei. Ehe er sich jedoch an sie wandte, hörte man langsame, schwache Schritte, und ein alter Mann erschien in der Tür des Privatkontors. "Ludwig, erinnern Sie sich meiner noch?", fragte er und ging auf den emsig Schreibenden zu. Der Kaufmann blickte verwundert auf. Der Klang der Stimme schien ihm bekannt zu sein. Dann sprang er vom Stuhl und drückte dem Alten tief gerührt und freudig die Hände.
"Vater Röber, willkommen, tausendmal willkommen!", rief er aus. Dabei rückte er seinem Gast einen Stuhl zurecht, auf den er vorher sein Kissen gelegt hatte, und setzte sich zu ihm. Er unterhielt sich so zärtlich mit ihm wie ein liebevoller Sohn mit seinem Vater. Der kluge Kaufmann hörte bald heraus, dass die Verhältnisse des guten, alten Mannes sich geändert hatten, und durch feines Empfinden und verstehendes Mitgefühl erleichterte er es ihm, sich frei und offen auszusprechen.
"Ja, Ludwig, ich befinde mich in Not. Stein hat seine Hypothek auf meinem Haus jetzt kurzfristig gekündigt. Da ich sie ihm nicht auszahlen kann, droht er, mir das Haus wegnehmen zu lassen", sagte Röber mit zitternder Stimme. "Ich war eben in seinem Geschäft, traf ihn aber nicht an, und nun dachte ich, Sie könnten mir vielleicht raten, was ich tun soll."
"Mein Lieber", antwortete der Kaufmann, seine Hand auf die Schulter des alten Mannes legend, "als ich vor fast dreißig Jahren frierend, hungrig und von allen Menschen verlassen an Ihrer Tür bettelte, nahmen Sie sich meiner an. Sie und Ihre liebe Frau sorgten für mich wie liebende Eltern, ernährten und kleideten mich, und als Sie dann Arbeit für mich gefunden hatten, steckten Sie mir noch Geld zu, damit ich nicht ganz mittellos dastand. Viel, wenn nicht alles, was ich geworden bin, verdanke ich Ihrer Teilnahme und Hilfe, mein lieber alter, Freund. Jetzt bin ich vermögend, und Sie müssen mich meine Schuld abtragen lassen. Ihre Hypothek werde ich noch heute auszahlen lassen. Sie sollen unbedingt Ihr Heim schuldenfrei haben."
Über die Wangen des alten Mannes flossen Tränen, und bebend sagte er: "Da habe ich Martha doch recht getröstet. Ich wusste, wenn wir unser Geld und Gut dem lieben Herrgott leihen, dann hilft er uns auch in der Not aus, wenn sie am größten ist."
Man wird sich die unterschiedlichen Gefühle der beiden Jünglinge vorstellen können, die Zeugen dieser Szene waren. Das übliche spöttische Lächeln im Gesicht des jungen Gregorius machte einem Ausdruck des Schreckens Platz, als der alte Mann eintrat und von dem Kaufmann so herzlich begrüßt wurde. Doch bald hatte er seine Sicherheit wiedergefunden. Er hielt es für unmöglich, dass Herr Röber ihn bei Tageslicht wiedererkennen würde, und machte ein ganz dreistes Gesicht.
Die beiden Männer setzten noch eine Weile ihre Unterhaltung fort. Herr Kronberg plauderte von fröhlichen Erinnerungen an "Tante Martha" und der schönen Zeit in Röbers Hause. Er meinte, dass eine Reise von 160 Kilometern für einen alten, schwachen Mann gewiss sehr beschwerlich sei. "Nun, Sie hatten doch hoffentlich eine gute Reise?", fragte er.
"Das kann ich nicht gerade sagen", war Herrn Röbers Antwort, und sein Gesicht verdüsterte sich dabei etwas. "Zuerst brach ein Rad am Omnibus, und das hielt mich auf, so dass ich den Morgenzug versäumte. Dann schlief ich im Zuge ein, und ein junger Mann spielte mir einen üblen Streich. Er weckte mich auf einer falschen Station und hieß mich aussteigen. So war ich genötigt, über Nacht in Zitterau zu bleiben. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so muss ich eingestehen, dass ich viel Plage auf der Reise hierher hatte. Aber nun ist alles gut, Gott sei Dank!", schloss er freudig lächelnd.
"Vater Röber, sobald ich diese jungen Leute entlassen habe, machen Sie mir die Freude, mit mir nach Haus zu kommen. Dort können Sie sich ausruhen", bat Kronberg freundlich seinen alten Wohltäter. Dann wandte er sich an Albert Gregorius und Otto Weber: "Sie sind gewiss wegen der ausgeschriebenen Stellung hier?"
"Ja!", antworteten beide gleichzeitig. Der Kaufmann wandte sich an Gregorius: "Sie kamen zuerst, wenn ich mich recht erinnere. Ihr Name, bitte?"
"Albert Gregorius", antwortete dieser ohne eine Spur von Verlegenheit. "Ich denke, dass ich Ihnen dienen kann. Ich habe erstklassige Zeugnisse über Kenntnisse, Fähigkeiten und Charakter von namhaften Firmen. Wenn ich bitten darf?" Damit reichte er Herrn Kronberg seine Empfehlungen hin.
"Es ist nicht nötig, dass ich diese einsehe", sagte der Kaufmann kühl und wies sie zurück. "Ich hatte nämlich Gelegenheit, Sie zu beobachten, und kenne Ihren Charakter gut genug." Gregorius wurde blass.
Der Kaufmann wandte sich jetzt an Otto Weber und richtete einige Worte an ihn.
"Ich würde mich freuen, wenn ich die Stellung erhalten würde", sagte dieser bescheiden. "Ich habe meinen Vater verloren und kann deshalb die Schule nicht weiter besuchen. Ich muss mich jetzt allein unterhalten und auch die Mutter noch versorgen helfen. So kommt's, dass ich keine Zeugnisse besitze."
"Doch, Sie haben welche", sprach hier der alte Röber dazwischen, der nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, für den jungen Mann einzutreten. Dann erzählte er dem Kaufmann, wie freundlich und hilfreich Otto Weber zu ihm gewesen sei im Gegensatz zu der unverschämten Charakterlosigkeit jenes jungen Mannes, der sich nicht gescheut hatte, einen alten, hilflosen Mann in ungezogener Weise zum Besten zu halten.
Als er geendet hatte, wandte sich der Kaufmann mit strenger Miene an Gregorius:
"Mein Herr, gestern abend saß ich in der Bahn neben Ihnen. Ich hörte Sie darüber triumphieren und sich lustig machen, einen alten Mann angeführt zu haben. Herr Röber, ist dies der junge Mann, der Ihre Unkenntnis ausnutzte, der Sie belogen hat und auf einer falschen Station aussteigen hieß?"
Herr Röber trat näher und betrachtete Gregorius aufmerksam. "Wirklich, jetzt erkenne ich ihn, er ist es, ja, er ist es!"
Bei diesen Worten verlor Gregorius doch seine erzwungene Sicherheit. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Er stammelte einige Entschuldigungen, die ihm aber noch in der Kehle stecken blieben, und er war froh, sich sogleich verabschieden zu können und glimpflich davongekommen zu sein.
"Herr Weber", sagte der Kaufmann freundlich, "mit Freuden stelle ich Sie in meinem Geschäft an."
Herr Kronberg überwies noch am gleichen Tage dem Bankgeschäft Stein das Geld für die Hypothek, die Herr Röber schuldete. Damit war dem guten, alten Mann eine schwere Last vom Herzen genommen. Er blieb einige Tage in der Familie des Kaufmanns, wo er mit der größten Achtung und Zuvorkommenheit behandelt wurde. Als er wieder abreiste, erhielt er viel warme Kleidung und Geschenke mit. Für sein ganzes weiteres Leben war das alte, ehrwürdige Paar aller Sorge enthoben. -
Albert Gregorius erhielt bald nach seiner missglückten Bewerbung eine gute Stellung in Würzburg. Aber seine Unfreundlichkeit und seine Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber machten ihn bei seinem Chef sowie bei seinen Kollegen unbeliebt. Er hielt es bald für besser, sich einen anderen Platz zu suchen. Seit dieser Zeit hat er schon oftmals gewechselt. Jahre sind vergangen, aber er hat im Leben nicht viel erreicht - eine Folge seiner Herzlosigkeit, Roheit, Ränkesucht und Schadenfreude.
Otto Weber aber wurde ein erfolgreicher Kaufmann und schließlich Teilhaber der Firma Kronberg. Er galt in weiten Kreisen als ehrenwerter und tüchtiger Geschäftsmann von edlem Charakter und war allgemein hoch geachtet.

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
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