Der Zitronenbaum
Gotthold ward in eines vornehmen Mannes Lustgarten ein junger Citronenbaum gezeigt, der etliche meist vollkommne und reife, etliche aber noch kleine unzeitige Früchte trug, wobei berichtet ward, daß dieser Baum in den warmen Ländern, Spanien, Wälschland, woselbst er seine vollkommne Größe und Stärke hat, in stetiger Arbeit, also zu reden, dem Menschen zu dienen erfunden werde, maßen man denn zu einer Zeit reife Früchte, halb gewachsene Aepfel und Blumen an ihm finde. Er antwortete: Ich will euch etwas von unsern gemeinen Aepfel- und Birnbäumen sagen, das ihr vielleicht bisher an ihnen nicht wahrgenommen. Indem sie im Frühling ausschlagen und von der Natur mit Laub, Blumen und Früchten mälig geziert werden, so könnt ihr an ihnen schon zugleich mit sehen und finden die Laub- und Tragknospen, damit sie sich das künftige Jahr beliebt und ansehnlich machen wollen, welche auch im Herbst, wenn die andern Blätter abfallen, als eine Hoffnung des folgenden Sommers bleiben und von erfahrnen Gärtnern können erkannt und unterschieden werden, daraus abzunehmen ist, daß, wenn unsere Bäume nicht durch des Winters strenge Kälte eingehalten und verhindert, sie alsofort wieder ausschlagen und des Jahrs zweimal tragen würden. Lasset uns aber von diesen leblosen Geschöpfen unsere Pflicht lerne„. Die Natur steht in immerwährender Wirkung und nachdem sie einmal einen Befehl und Segen von ihrem allgewaltigen Schöpfer empfangen, dem Menschen zu dienen, so läßt sie nimmer nach, sondern wirkt, treibt, grünt, blüht, fruchtet, so viel sie immer kann. Warum thun wir nicht dergleichen, welche Gott nicht allein geschaffen und gepflanzt, sondern auch mit dem Blute und Geiste seines liebsten Sohnes befeuchtet hat, daß wir sollten ihm und unserm Nächsten die Früchte der Liebe und Dankbarkeit bringen? Gewiß in den rechtschaffnen Pflanzen des Herrn findet sich eine immer wirkende, treibende, dringende Kraft, wie der Apostel mit seinen merkwürdigen Redensarten bedeutet, wenn er sagt: Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Rom. 8, 14. Die Liebe Christi dringet uns. 2. Cor. 5, 14. Wenn sie ein Werk der Liebe vollbracht und eine Frucht der Gerechtigkeit zur Ehre Gottes und zum Dienst des Nächsten abgestattet, so blühen sie schon wieder im Geiste und sind auf mehrere bedacht. Man findet sie weder Sommer, noch Winter ohne gute Früchte, oder doch nicht ohne Blumen, Blätter und Fruchtknospen, das ist ohne heilige, herzliche Begierde und guten Vorsatz, Gottes Ehre zu befördern und den Menschen besserlich zu sein. Sie sind der göttlichen Natur theilhaftig worden, 2. Petr. 1, 4., und haben Christi Geist und Sinn. Rom. 8, 9. 1. Corinth. 2, 16. Was aber Gottes und Christi Sinn sei, macht er kund mit den nachdenklichen Worten: Mein Vater wirkt bisher, und ich wirke auch, Joh. 5, 17., deren Meinung ist: obwohl mein himmlischer Vater von den Werken der Schöpfung ruht, so wirkt er doch immerdar in der Erhaltung und Regierung aller Dinge, er versorgt, ernährt und unterhält alles; solche Natur hab ich auch, ich muß immer zu thun haben, ich muß immer lehren, trösten, helfen, gesund machen, speisen und Gutes thun; solche Natur, solchen Sinn hat er auf seine Gläubigen vererbt und fortgepflanzt; ihnen ist nicht wohl, wenn sie nicht immer Gelegenheit haben, Gutes zu thun, sie freuen sich mehr, wenn sie andern mögen dienen, als wenn ihnen gedient wird; wenn sie des Morgens sich mit ihrem Gott besprochen und sich seiner Gnade in Christo versichert haben, so ist ihr herzlicher Wunsch, daß sie möchten stracks veranlaßt werden, dem Nächsten zu dienen, einen Betrübten zu trösten, einem Zweifelmüthigen zu rathen, einen Irrenden zu bekehren, einen Schwachen zu erquicken, einen Hungrigen zu speisen und so fortan. Lasset uns nun hiebei eine Prüfung anstellen, ob wir wahrhaftig solchen Sinn und Art Christi an uns haben. Ach, mein Herr Jesu! ohne dich können wir nichts thun. Bleibe du in mir und ich in dir! Joh. 15, 5., so wirds mir an solcher Kraft und Frucht nicht fehlen!
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