Der Wermuthstrauch

In einer berühmten Stadt ist es gebräuchlich, daß man auf die Leiche, wenn man sie zu Grabe trägt, ein Kreuz von Wermuth gemacht anheftet und es hernach mit derselben ins Grab verscharrt. Gotthold ward hierüber befragt, was er meinte, daß die lieben Alten für ein Absehen mit diesem Gebrauch möchten gehabt haben. Er antwortete: Ich weiß, daß an vielen Orten auch dieses gebräuchlich ist, daß man den Wermuth auf den Gräbern pflanzt, ich halte aber, beides habe einerlei Deutung, daß nämlich nicht allein die Bitterkeit unsers betrübten, mühseligen Lebens und schmerzlichen Todes männiglich vor Augen gestellt, sondern auch dabei erinnert werde, daß mit den Seligverstorbenen alles ihr Elend gestorben, daß nunmehr sie von aller Bitterkeit befreit, in ihren Gräbern sanft und süße ruhen, daß alles Leid mit ihnen todt und begraben fei. Der Wermuth ist bitter, doch der Gesundheit des Menschen sehr dienlich; so ist der Tod zwar der Natur bitter, er schafft aber der gläubigen Seele eine himmlische Süßigkeit und befreit sie von aller Widerwärtigkeit, Kummer und Jammer, daß es heißt:

Ihr Jammer, Trübsal und Elend
Ist kommen zu einem seligen End.

Wobei mir zufällt, was in den meißnischen Jahrbüchern erzählt wird von Frau Agnes, geboren aus königlichem böhmischem Stamm, des Markgrafen Heinrich zu Meißen erster Gemahlin; als dieselbe schwer krank gewesen, sei ihr im Schlaf ein Engel erschienen, der aus einem güldenen Becher ihr einen Trunk gereicht; als sie ihn aber gekostet, habe sie gesagt: Ach, wie ein herber und bitterer Trank ist das! Darauf der Engel geantwortet: Es wird aber bald eine große Süßigkeit darauf folgen. Solches hat sie, als sie erwachte, ihrem Herrn erzählt, und ist bald darauf sanft und stille im Herrn eingeschlafen. Sonst ist auch dieses merkwürdig, was ein berühmter Schriftsteller berichtet, daß, wenn man das Salz, welches aus der Asche des verbrannten Wermuth durch Apothekerkunst bereitet wird, an einem Ort in die Erde verscharrt, bald nachher daselbst dieses Kraut häufig wachsen und aus der Asche als einem Samen hervorkommen werde. Auf solche Weise könnte uns der Wermuthstrauch eine Erinnerung geben von der Auferstehung, unsrer Leiber, die in diesem Leben ein rechtes Wermuthkraut voll Bitterkeit und Unruhe gewesen, hernach zu Staub und Asche werden, aber Gott wird aus dieser Asche sie wieder hervorbringen zu seiner Zeit, wird sie mit Unverweslichkeit, Klarheit und Herrlichkeit schmücken und im Himmel mit ewiger Süßigkeit tränken. Darum mein Gott!

Ob gleich süß ist das Leben,
Der Tod sehr bitter mir, 
Will ich mich doch ergeben. 
zu sterben willig dir; 
Ich weiß ein besser Leben, 
Da meine Seel fährt hin; 
Deß freu ich mich gar eben; 
Sterben ist mein Gewinn.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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