Der Wein

Gotthold ward bei der Mahlzeit ein schöner Trunk Wein geboten, darüber er Folgendes redend ward: Zu verwundern ist es, daß ein so unansehnliches und schlechtes Holz, welches sich durch eigne Kraft nicht aufrichten oder bestehen, daraus man auch nicht einen Nagel machen kann, wie die Schrift redet, Hesek. 15, 3., eine so edle, schöne Frucht voller Kraft und Saft hervor bringt; doch scheint es, als habe der Höchste das Holz darum so ungestaltet und schwach erschaffen, daß wir bei Genießung seiner edlen Frucht mehr auf ihn, den Schöpfer, und seine gütige Kraft, als auf einige natürliche Ursachen sehen sollten. Denn von ihm kommt es, daß der Wein des Menschen Herz erfreut. Ps. 104, 15. Merklich aber ist es, daß die Schrift sagt, daß der Wein nicht allein die Menschen, sondern auch Gott erfreue. Richt. 9, 13. Trinket denn der Höchste, den nimmer hungert oder dürstet, auch Wein im Himmel, daß sein Herz davon gutes Muths wird? Ach nein! sondern er trinkt Wein, wenn ihn die Menschen in seiner heiligen Furcht und Dankbarkeit trinken, er wird erfreut, wenn seine Gläubigen durch ein Trünklein Weins erfreut, ihres Leides und Kummers, damit sie auf Erden belästigt sind, vergessen. Gott, der wohlthätige und liebreiche Herr, hat den Wein vornehmlich für die betrübten und sorgenvollen Gemüther, die blöden, schwachen, kranken und alten Leute erschaffen. Wenn nun solche mit einem Trünklein Wein sich erquicken, so erfreut er Gott und Menschen; denn es ist Gottes Lust und Freude, wenn er uns Gutes thut und wir seiner Gaben gottselig gebrauchen. Jer. 32, 41. 5. Mos. 28, 63. Ach, sagte einer aus der Gesellschaft, die Armen, Elenden, Traurigen und Kranken kriegen des Weins am wenigsten, und müssen sich wol mit saurem Kovent behelfen, wenn die Großen und Reichen sich selbst und andere im Wein fast ersäufen wollen. Gotthold antwortete: Was zur Ungebühr verschlemmt und den dürftigen Gliedern Christi entzogen wird, das gehört unter die Kreatur, welche über den schändlichen Mißbrauch und über die Eitelkeit, der sie wider ihren Willen unterworfen ist, ängstlich seufzt. Röm. 8, 20. Und darüber wird der Höchste voll Unmuths, daß, wenn er ein wandelbarer Mensch wäre, es ihn fast gereuen sollte, daß er den undankbaren Menschen diese und andere gute Gaben gegeben. Doch, wenn es ja frommen und armen Leuten am natürlichen Wein fehlt, so muß es ihnen am geistlichen doch nicht mangeln. Gott selbst ist ihr Wein, wie der königliche Prophet in seinem Elend sagte: Du erfreust mein Herz, ob jene gleich viel Wein und Korn haben, Ps. 4, 8. Ich meinestheils will mein Leben lang gern alles Weins entbehren, wenn nur mein Gott mit seiner Gnade und Trost mein Herz und Mund fröhlich macht! Mein Gott! wenn du uns so erfreust in der Eitelkeit, was wirst du thun in der seligen Ewigkeit? Ach, wie bitter und herbe ist aller Welt Wein und Freude, wenn ich an die Süßigkeit gedenke, damit deine Auserwählten, die schon bei dir sind, getränkt werden! Weinen ist mir hier oft näher als Wein. Ach, wann werde ich dahin kommen, daß ich den Wein deiner ewigen Gnade im Himmel koste!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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