Der Wassertropfen

Als an einem Handfaß das Hähnchen nicht recht zugewrungen war und also die Tropfen immer zu in das unten gesetzte Becken fielen, sagte Gotthold: Dies scheint eine geringe und nichtige Begebenheit zu sein, dennoch kann sie uns das zu Gemüthe führen, dessen wir billig unser Leben lang nicht vergessen sollten. Der reiche Mann, als er in der Hölle und in der Qual war, bat um einen einigen Wassertropfen, seine brennende Zunge abzukühlen, welches er aber nicht erhalten konnte. Luc. 16, 23. Ach, was wäre es doch für eine Kühlung gewesen, so viel Wassers, als am äußersten Finger hängen bleibt, wenn man ihn ins Wasser taucht, einem, dem die höllische Schwefelflamme zum Halse ausschlägt, in den Mund lassen fallen? Gewiß keine, und dennoch kann ers nicht erhalten, anzudeuten, daß in der Hölle nicht der allergeringste Trost, nicht die wenigste Linderung, nicht die kürzeste Abwechslung zu hoffen sei. Gehet nun hin, ihr sichern Menschenkinder! Füllet euch mit dem besten Wein, labet euch nach Belieben, thut, was euch gelüstet, genießt eurer Güter, vergeßt Gottes und des armen Lazarus, schüttet euch selbst und andern das Getränk ein mit ganzen Maßen, allein wisset, daß euch Gott um dies alles wird vor Gericht führen, Predig. 11, 9., und ein schreckliches Urtheil über euch fällen des Inhalts: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und feinen Engeln! Matth. 25, 41. Ach, weh euch, die ihr voll seid, denn euch wird ewig hungern und dürsten! Weh euch, die ihr hie lachet, denn ihr werdet ewiglich weinen und heulen! Luc. 6, 25. Die Alten haben vor Erfindung der Sand- und Sonnenuhren die Zeit mit solchen Wassertropfen abgemessen. Ach, lasset uns ja, wenn wir solche Tropfen fallen hören, an die Flüchtigkeit unsers Lebens gedenken, denn wie hier ein Tropfen dem andern folgt, bis nichts mehr darinnen ist, also folgt eine Stunde der andern, ein Tag dem andern, ein Jahr dem andern, bis das ganze Leben aus ist. Was wäre es denn, wenn mit meinem Leben auch aller Trost aus wäre und ich mich keines einzigen Wassertropfens in alle Ewigkeit zu erfreuen hätte? Mein Gott! deine Güte und Barmherzigkeit fällt täglich mit vielen Tropfen vom Himmel herab; selig ist, der sie auffängt; wer aber die Tropfen deiner Gnade verachtet oder mißbraucht in der Zeit, der ist keines Wassertropfens werth in Ewigkeit. Wer aber hier mit den Tropfen deiner Gnade vorlieb nimmt, den wirst du dort trunken machen von den reichen Gütern deines Hauses, und ihn mit Wollust tränken als mit einem Strom. Ps. 36, 9.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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