Der verlorene Sonntag

Eine Geschichte, die vielleicht erfunden ist, aber leider eine tiefe Wahrheit sagt: In dem Lokalanzeiger einer kleinen Stadt kam folgende Anzeige: "Ich habe meinen Sonntag verloren! Jede Auskunft, die zur Wiederauffindung dient, wird belohnt. Dr. Maier." Am nächsten Tage bekam Dr. Maier viel Besuch. 
In der frühe kam der Stadtpolizist und wollte ein Protokoll über den Verlustgegenstand aufnehmen. Aber der Doktor sagte nur: "Seit ich meinen Sonntag verloren habe, weiß ich überhaupt nicht mehr, wie er ausgesehen hatte. Als ich ein Kind war, hatte ich ihn noch. Als ich 16 Jahre alt war, starb meine Mutter, die immer für einen schönen Sonntag gesorgt hatte." 
Am Nachmittag kam der dicke Gastwirt. Weil doch bekanntlich das gute Essen für den Sonntag von ausschlaggebender Bedeutung sei, wollte er sich erlauben, dem Doktor seine Speisekarte vorzulegen, auch frei Haus. 
Da kam der Bettenfabrikant und pries die neueste Konstruktion an: "Sie schenke guten, langen Schlaf und mache jeden Tag zu einem Sonntag". 
Da kam auch der Agent der "Fahrt ins Blaue", "mit eingelegten, freien Spaziergängen", und sang ein Lied von der Sonntagsstille der Natur. 
Und schließlich war noch der Vorsitzende des Schützenvereins da und meinte, wenn der Doktor jeden Sonntagvormittag mit ihnen einen Ausmarsch mache und am Abend zum Schoppen komme, werde er schon merken, wann Sonntag sei. 
Der Doktor schüttelte nur den Kopf, das hatte alles nicht zu seinem Sonntag gehört. Am Spätabend kam ein alter Missionar, der in Zentralafrika unter einem Negerstamm lange gearbeitet hatte, und erzählte ihm folgende Fabel der Neger: Die Tiere waren einst neidisch darauf, dass die Menschen Festtage haben und sie nicht. Und sie berieten sich, wie sie wohl dazu kommen könnten. Der Vielfraß sagte, es läge an vielem und gutem Essen. Der Pfau meinte, ein besonderes Festgewand sei das wichtigste. Das Faultier dagegen verlangte, man müsse vor allem viel Ruhe haben. Das alles gewährte ihnen der große Dämon, aber noch war es kein Festtag. Und die Neger lachten dann und sagten: Wie dumm, nicht zu wissen, dass sie keinen Festtag hatten, weil sie nicht mit dem großen Geist reden können!

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 2077
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