Der verborgene Schatz des Hauses

An einem heißen Julitag kam ein Reisender vor die Tür einer ärmlichen Hütte, um sich ein Glas Wasser zu erbitten. Eine Frau, von drei in Lumpen gehüllte Kinder umgeben, brachte ihm das Gewünschte. Der Anblick dieser Familie offenbarte ihm einen Abgrund von Elend, Unordnung und Nachlässigkeit. "Wenn diese armen Leute doch wüssten, welch ein Schatz in ihrem Hause verborgen liegt", sagte er halblaut, als er sich entfernte. Die Frau blieb wie versteinert stehen und schaute dem Fremden noch eine Weile sinnend nach.
"Hättest du nicht gleich fragen können, wo der Schatz ist, du dummes Weib?" fuhr Dick, ihr Mann, sie an, als sie ihm die Geschichte erzählte.
"Ich werde ihn schon finden", gab sie zurück.

Sie suchte den ganzen Abend und träumte die Nacht davon. Am anderen Morgen ging sie mit Tagesanbruch wieder ans Werk. Als ihr Mann am Mittag nach Hause kam, war noch kein Essen bereit; fluchend und schimpfend kehrte er wieder in die Schenke zurück.

Eines Tages, als sie einen Haufen altern Sachen aus dem obersten Fach eines Schrankes hervorzog, fiel ein großes Buch heraus, das sich beim Herabfallen öffnete. Es war eine Bibel, auf die ihre Mutter ihren Namen geschrieben hatte, und darunter standen die Worte: "Köstlicher als Gold" (Ps. 19,11) Dieser Vorfall rief eine Menge alter Erinnerungen in ihr wach. Sie gedachte besonders ihrer glücklichen Jugendzeit und der schönen Tage, die sie bei ihrer Mutter verlebt hatte. Und jetzt war alles so ganz anders! Nichts als Schmutz, namenloses Elend und Streit in der Familie! Warum das? Ein Gedanke durchblitzte ihr Inneres: "Aus diesem Buch hat meine selige Mutter all ihr Glück geschöpft; das ist der Schatz, das ist der Schatz!"

Ein tiefes Schamgefühl erfasste sie beim Anblick der Unordnung, in der sie in ihrer Trägheit so lange gelebt hatte; auf der anderen Seite ergriff sie die leise Ahnung, es könne doch noch Hilfe für sie möglich sein. Dieses doppelte Gefühl von Entrüstung über sich selbst und von Hoffnung auf Besserung wehte sie wie ein frischer, erquickender Luftzug an und half ihr sofort, einen ersten Schritt aus dem alten Schlendrian heraus zu machen. Sie fing an, im ganzen Haus Ordnung zu schaffen.

Als Dick heimkam, war das Abendessen schon bereit, die Kinder ordentlich gekleidet und die Frau begegnete ihrem Mann freundlich. "Ah, sie hat ihn schon gefunden", dachte er bei sich selbst, sagte aber trotz seines Erstaunens kein Wort. Als er und die Kinder im Bett waren, nahm die Frau die Bibel hervor und las darin. Dann betete sie, dass Gott ihr ihren bisherigen Leichtsinn verzeihen und Kraft zu einem neuen Leben schenken möge.

Am anderen Morgen erwachte sie wieder mit dem gleichen Gedanken. So verging ein Tag nach dem anderen. Dicks Erstaunen über die gewaltige Veränderung in seiner Frau und in seinem ganzen Hause wurde immer größer, bis seine Frau ihm schließlich den gefundenen Schatz enthüllte. Auch er bedurfte eines solchen Schatzes; auch er wurde bald ein anderer Mensch. So war es kein Wunder, dass alles im Hause anders wurde. Die Armut wich dem Wohlstand, die Unzufriedenheit der Zufriedenheit, der Streit dem Frieden, das Sündenleben fröhlicher Gotteskindschaft. Dies alles hatte das Auffinden des Schatzes aller Schätze bewirkt.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 818
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