Der Traurige
Es kam ein betrübter Mann zu Gotthold, sagend, er hätte mit ihm zu reden, wenn sie könnten allein sein. Als er nun von ihm in ein abgelegenes Zimmer geführt wurde, fing er an, mehr mit den Augen, als mit dem Munde zu reden, ich will sagen, er begann so viel Thränen zu vergießen, daß ihm die Rede dadurch gehemmt wurde. Gotthold sprach: Ihr sagt, ihr hättet mit mir zu reden, und ob ihr zwar mit eurem Munde nichts sagt, so reden doch eure Augen so viel, daß ich leicht erachten kann, daß euer Herz mit einem schweren Anliegen belästigt ist; Lieber, sagt mir etwas und erleichtert euer Herz. Ach, sprach der andere, Sünde! Sünde, du Seelengift! wie plagst und nagst du mein armes Herz! Darauf sagte Gotthold mit fröhlichem Gesicht: Es fehlte nicht weit, ihr hättet mich auch traurig gemacht und hättet meine Thränen durch die Eurigen heraus gelockt, diese eure Traurigkeit aber, so viel ich vernehme, ist keines Betrauerns werth. Ach, wie freue ich mich über eure Traurigkeit, wie lieb ist mir eure Betrübniß! Ja, die h. Engel lachen, daß ihr weint, und der Herr Jesus freut sich, daß ihr traurig seid. Wenn ich gesehen hätte eure Sünde, so hätte ich weinen wollen, jetzt aber, da ihr eure Sünde mit Thränen beklagt, da Hab ich Ursache, mich herzlich zu erfreuen. Dies ist die göttliche Traurigkeit, die da wirket zur Seligkeit eine Reue, die niemand gereut. 2. Cor. 7, 19. Ich wünsche von Grund meiner Seele, alle unbußfertigen sichern Menschen in einem gleichen Zustande mit euch zu sehen. Viele sind, die beweinen, daß sie ihren Willen nicht haben mögen, wenige beweinen, daß sie ihren Willen gehabt haben. Ich sehe viel Trauerns in der Welt, aber wenige, die sich selbst betrauern. Es ist eine unglückselige Seele, die sich selbst noch niemals beweint hat. Die betrübten Herzen aber sind die Gefäße, die mit dem Blut und Trost des Herrn Jesu gefüllt werden. Darum weinet nur bitterlich, lasset die Thränenquellen nach ihrem Willen fließen; besser ist es, mit Reue weinen, als ohne Scheu sündigen. Der himmlische Arzt geht schon damit um, daß er ein Mittel für eure Traurigkeit finde. Ach, fuhr jener fort, warum hat mich doch Gott von feinen Wegen irren und in diese Sünde fallen lassen? Fürwahr, antwortete Gotthold, trauet sicherlich, daß es dem heiligen und frommen Gott lieber gewesen wäre, daß ihr nicht gesündigt hättet; weil es aber geschehen ist, so danket dem barmherzigen und langmüthigen Herrn, daß er euch auf frischer That nicht gestraft und durch einen plötzlichen Tod zum ewigen Verderben nicht hingerissen hat. Wisset auch, daß der allmächtige und gütige Gott nicht zulassen würde, daß in der Welt etwas Böses geschehe, wenn er nicht so allmächtig und gütig wäre, daß er auch aus Bösem etwas Gutes zu machen wüßte. Den auserwählten Kindern Gottes müssen alle Dinge, auch die Sünde, zum Besten dienen. Röm. 8, 28. Aus Betrachtung der Sünde entsteht bei ihnen göttliche Traurigkeit, ein heiliger Haß des sündlichen Leibes, die Verschmähung der Welt, das Verlangen nach dem Himmel; und wo ein solcher Regen, als wie bei euch, die Bußthränen meine ich, trieft, da wächst die Demuth, die Sanftmuth und Langmuth, die Freundlichkeit und das Mitleiden gegen andere. Niemand lehrt sanftmüthiger, niemand erwartet geduldiger, niemand tröstet kräftiger, niemand vergiebt herzlicher, als der selbst solcher Hülfsmittel bedürftig gewesen. Niemand liebt den Herrn Jesum brünstiger, als dem viele Sünden vergeben sind, niemand ist seine Gnade süßer, als der in schmerzlicher Erkenntnis seiner Sünden seine Ungnade gekostet hat. Darum, daß ihr gefallen seid, das schreibt euch selbst und eurer Bosheit zu; daß ihr aber Zeit zur Buße gehabt und daß ihr zur Erkenntniß des Sündengreuels und zum herzlichen Verlangen nach der Gnade Gottes gebracht seid, das ist allein Gottes Güte, die so wundersam ist, daß sie uns durch Schwachheit befestigen und durch Fallen aufrichten kann.
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