Der Thau
Gotthold ging des Morgens früh hinaus ins Feld, und sah die aufgehende Sonne mit Freuden an, gedachte dabei an die Sonne der Gerechtigkeit, deren Aufgang und Erscheinung zum letzten Gerichtstag er sehnlich wünschte, und sprach: O lieber jüngster Tag! O erwünschter Freudentag! O seliger Tag der Offenbarung der Kinder Gottes! O heiliger Sabbath! O Anfang der ewigen Ruhe, wann wirst du doch endlich anbrechen? O Jesu! du Sonne und Wonne meines Herzens, wo bleibst du? Wie lange soll der Satan und seine liebe Getreue, die gottlose Welt, deine Verheißung für Lügen, und deine Zukunft für Spott halten? Wie lange sollen deine Auserwählten mit der ganzen Natur unter ihrer Last seufzen und sich ängsten wie ein Weib in Kindesnöthen? Nun du wirst kommen, du wirst bald kommen, mein Herz sagts mir! Gieb nur, daß wir allezeit in guter Bereitschaft erfunden werden! Im Fortgehen ward er gewahr, daß seine Füße vom Thau ganz angefeuchtet und genetzt, auch alle Grashalme und Kräuterlein oben an der Spitze und sonst wie mit Perlen bestreut und mit Silbertropfen übergossen waren. Ach, sprach er, ich suche die erbauliche Unterhaltung meiner Gedanken über mir am Himmel, und habe, mein Gott! deine Güte, damit du die Erde füllest, noch nie recht erkannt. Jetzt gedenke ich an das, was einer von deinen Freunden (Joh. Arnd) gesagt: Das höchste Gut hat alle Kreaturen mit dem Tröpflein seiner Güter besprengt, zu dem Ende, daß es den Menschen sollte zu gut kommen.
Jetzt mag ich mit Wahrheit sagen, daß ich meinen Tritt in Butter wasche, Hiob 29, 6., und daß deine Gnade ist wie eine Thauwolke, Hos. 6, 4. Kann ich diese Perlen zählen, so kann ich auch deine Wohlthaten zählen. Deinem Namen sei ewig Lob! Mein Herr und Gott! laß auch ein und ander Tröpflein deiner süßen Gnade auf mein armes Herz und Gewissen fallen, dadurch es in Traurigkeit getröstet und zu deinem willigsten Dienst angefrischt werde.
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