Der Storch

Eine gottselige Gesellschaft, als sie Lust halber ins Feld gegangen war, ward eines Storchs, der auf einem schönen Anger seine Nahrung suchte, gewahr; darauf sagte einer: Lasset uns hiebei gedenken an die Klage des liebreichen Gottes, die er beim Propheten führt, Jerem. 8, 7.: Ein Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, eine Turteltaube, Kranich und Schwalbe merken ihre Zeit, wenn sie wieder kommen sollen, aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen. Ach! wie mancher Mensch versäumt die Gnadenzeit, und obwohl der langmüthige Gott ihm die Himmelsthür weit aufthut und, in derselben stehend, die Hände gegen ihn ausbreitet und spricht: Siehe! hier bin ich, Jes. 58, 9., so achtet ers doch nicht, sondern sucht vielmehr eine offne Thür zur Hölle, die Gelegenheit meine ich, seinen Sünden ferner nachzuhängen. Gott behüte uns vor Sicherheit und harten Herzen und lasse unser Leben eine stetige Buße und Wiederkehr zu Gott sein! Gotthold that hinzu: Ich habe neulich von diesen Vögeln etwas Wunderliches gelesen, daß sie nämlich ihre Jungen so herzlich lieben, daß sie auch den Tod ihrethalben nicht scheuen. Man hat in Feuersbrünsten wahrgenommen, daß sie in ihren Hälsen und Schnäbeln häufig und fleißig Wasser zugeführt, ihre Nester, so sie auf den brennenden Häusern hatten, zu retten; ja man hat zu Delft in Holland gesehen, daß, als sie die Jungen nicht retten konnten, sie auf sie in den Nestern gefallen, die Flügel über sie ausgebreitet und also nebst ihnen umgekommen. Das heißt aus Liebe und in der Liebe gestorben! Und dieses bringt mir in den Sinn den allertheuersten werthesten Menschenfreund, Jesum, über welchen man billig, wenn man ihn am Kreuz hängend malt, sollte schreiben: Aus und in Liebe gestorben. Fürwahr, der Tod des Sohnes Gottes ist die Liebe gewesen, kein Tod hätte ihn können tödten, die Liebe aber zu uns Menschen hat ihn vom Himmel gezogen, in die Krippe gelegt, ans Kreuz gebracht und getödtet. Man sammelt gern die Kräuter und Pflanzen, wenn sie in ihrer besten Kraft sind; also halt ich, der himmlische Vater habe dieselbe Zeit zu seines allerliebsten Sohns Tod bestimmt, da seine Liebe den höchsten Grad erreicht hatte, und wie er also in der Liebe ist gestorben, so ist er auch darin wieder auferstanden, gen Himmel gefahren, und kann nun in Ewigkeit nicht anders, als die Menschenkinder herzlich lieben. Uns gebührt auch nichts anders, als in seiner herzlichen Liebe zu leben und zu sterben. Der h. Augustinus wünscht ein Licht zu sein, das in der Liebe Jesu Christi brenne und sich verzehre. Von seinen getreuen Liebhabern und Blutzeugen kann man mit Recht sagen, daß sie aus Liebe und in der Liebe gestorben sind. Von der christlichen Königin in Georgien, Katharina, welche Schach Abbas in Persien hat martern und hinrichten lassen, finde ich, daß sie zuerst mutternackt ausgezogen und ihr hernach mit glühenden Zangen die beiden Brüste und das Fleisch von Armen und Beinen abgerissen worden, in welcher erschrecklichen Marter sie oft wiederholt: O mein Gott! o mein Jesu, mein Erlöser! dies alles ist noch wenig um deinetwillen! Ich kann dir dein Verdienst nicht bezahlen! Leben um Leben, Blut um Blut ist man um deiner Liebe willen schuldig, weil du aus Liebe gegen mich in deiner Liebe gestorben! Ach Jesu! ich will dir meines Ausgangs halber nichts vorschreiben, doch weiß ich wohl, daß mir vergönnt ist, kühnlich und kindlich mit dir zu reden; wenn ich sterben soll, so laß meine Krankheit und hitziges Fieber deine Liebe sein, mein Bett das Andenken deines Kreuzes, an welchem du aus Liebe gestorben bist, meinen Durst das Verlangen nach dir, mein Labsal und Herzstärkung den Vorschmack deiner ewigen Liebe, meine Phantasie das Verschmähen der Welt und das Verlachen ihrer Eitelkeit, meinen Abschied von meinen Freunden das Vermahnen zu deiner Liebe, meinen letzten Seufzer: Jesu, ich liebe dich! mein Sterben einen Eingang zu deiner himmlischen und ewigen Liebe, meine Grabschrift: Gotthold starb aus Liebe und in der Liebe Jesu!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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