Der Stellvertreter am Kreuz

Das Grab einer wohlhabenden Dame in China war geplündert worden und der Mann, namens Liu, auf den der Verdacht fiel, wurde verhaftet. Die Tat konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, aber da das Volk stürmisch nach Sühne des Verbrechens verlangte, so wurde der Unglückliche unbarmherzig zum Tode am Kreuz verurteilt. Alle, die ihn kannten, hielten ihn für unschuldig und seine Angehörigen taten ihr möglichstes, um seine Freisprechung zu erlangen, aber vergeblich. Eine Gnadenfrist von wenigen Tagen war die einzige Vergünstigung, die sie erreichen konnten und diese wussten sie, um möglicherweise den Schuldigen zu entdecken. Nachdem dieses bekannt geworden war, kam eines Tages ein junger Mann zu einem Freunde des Verurteilten und fragte ihn:
"Was würden Sie einem Manne geben, der sich des Verbrechens anklagte, für das Herr Liu zum Tode verurteilt ist?"
"Wissen Sie, wer das Verbrechen begangen hat?"
"Das nicht; aber ich weiß jemanden, der bereit wäre, die Schuld auf sich zu nehmen, wenn eine genügende Summe dafür gezahlt würde."
"Wie heißt der Betreffende?"
"Der Name tut nichts zur Sache. Die Frage ist: Wollen Sie auf einen derartigen Handel eingehen oder nicht?"
"Ja."
"Was würden Sie einem Ersatzmann bieten?"
"Zuerst muss ich wissen, wer es ist."
"Ich bin es selber. Wenn ein genügender Preis bezahlt wird, will ich bekennen, das Verbrechen begangen zu haben."
"Haben Sie wirklich das Grab geplündert?"
"Nein, ich kenne auch nicht den Täter; doch macht dies keinen Unterschied. Die Mandarine wollen um jeden Preis ein Opfer haben; wer sich dazu hergibt, ist ihnen einerlei. Seit einiger Zeit fühle ich, dass meine Gesundheit nachlässt; voraussichtlich lebe ich nicht mehr lange und es wäre mir ein beruhigender Gedanke, meinen armen Eltern durch meinen Tod einen sorgenfreien Lebensabend zu sichern. Wenn Sie also darauf eingehen, mir 1000 Dollar zu zahlen, so erkläre ich mich bereit, mich als den Schuldigen zu bekennen und an Herrn Lius Stelle den Tod zu erleiden."
"Tausend Dollar! Ihrem Aussehen nach leben Sie keine zwei Jahre mehr und können demnach kaum mehr als hundert Dollar vor Ihrem Tode verdienen. Sobald Sie auf ein vernünftiges Angebot einzugehen bereit sind, will ich weiter mit Ihnen reden."
"Und die Schmerzen, vor allem aber die Schmach eines solchen Todes - sollen diese gar nicht in Betracht kommen?"
"Ach was! Der Schmerz ist bald vorüber und wenn Sie einmal tot sind, wissen Sie nichts mehr von der Schmach."
"Wenn Sie glauben, in der Geisterwelt fühlte ich die Schmach nicht, irren Sie gewaltig. Und meinen Sie, meine armen Eltern litten etwa nicht darunter? Soll ich ihnen umsonst Schande machen? Wer wird den Vater oder die Mutter eines Gekreuzigten je achten?"
Nach vielem Hin- und Herreden wurde endlich der Handel abgeschlossen und der junge Mann erklärte sich bereit, die Stelle des Verurteilten einzunehmen unter der Bedingung, dass ihm 50 Dollar ausbezahlt würden, sobald er in Gegenwart von Zeugen ein volles Geständnis des Verbrechens abgelegt habe. Weitere 250 Dollar sollten die Eltern unmittelbar vor der Exekution in Empfang nehmen; der Verurteilte und seine Angehörigen versprachen aber, ihr Möglichstes zu tun, um zu erwirken, dass die Kreuzigung in eine weniger grausame Todesart umgewandelt werde.
Wie verabredet, nahm er also am letzten Tage die Stelle des Verurteilten ein, während dieser in Freiheit gesetzt wurde. Die versprochene Summe wurde ausgezahlt und Herr Liu, sowie dessen Angehörige taten ihr Möglichstes, um die Kreuzigung in eine mildere Strafe umzuwandeln - aber vergeblich. Die Chinesen betrachten den Leichenraub mit solcher Abscheu, dass Leute, welche sich dieses Verbrechens schuldig machen, bei ihnen auf kein Erbarmen rechnen dürfen.
Am nächsten Morgen, nachdem die Summe von 300 Dollar für die Stellvertretung bezahlt worden war, wurde der junge Mann in Begleitung seiner Angehörigen und Freunde in aller Frühe zur Richtstätte hinausgeführt und ohne weiteres ans Kreuz genagelt. Letzteres wurde dann aufgerichtet und in die Erde geschlagen, worauf der Unglückliche allen Qualen eines langsamen Todes, wie man ihn sich nicht schrecklicher denken kann, übergeben wurde.
Viele sahen dem schrecklichen Schauspiele zu, machten sich über die Qualen des armen Mannes lustig und gaben auf alle Weise zu erkennen, wie sehr sie mit der Strafe einverstanden waren. Die einen fragten, wie es ihm da oben gefalle, ob er von seinem erhöhten Standpunkte aus die Menge übersehen könne, ob ihm das Gräberplündern viel eingetragen habe usw. Andere sahen schweigend zu und vergaßen über dem Mitleid mit dem unglücklichen Opfer ihre Abscheu vor der Gräueltat, wenn sie auch nicht wagten, diesem Gefühle Ausdruck zu geben, um nicht des Einverständnisses mit dem Verbrecher beschuldigt zu werden.
Neben dem Kreuze standen die trauernden Eltern. Ihren kummervollen Mienen sah man es an, wie furchtbar sie mit dem Sohne litten, wie seine Qualen ihm durch Mark und Bein gingen; in dem liebevollen Blick, mit dem sie unverwandt an des Sohnes schmerzverzerrten Zügen hingen, spiegelte sich aber zugleich noch ein ganz anderes Gefühl, mächtiger noch als Schmerz und Mitleid - das Gefühl unbegrenzter Bewunderung für den heldenmütigen Sohn, der sein Leben für seine Eltern gab. Schweigend rieb der alte Vater sachte die Glieder des Sohnes, während die Mutter seine Füße badete und mit tränenerstickter Stimme bald ihrem Mitleid und Schmerz, bald ihrer Bewunderung Ausdruck gab. Dazwischen schalt sie wohl auch die schaulustige Menge über ihre Herzlosigkeit und erklärte laut des Sohnes Unschuld, indem sie erzählte, dass er freiwillig an eines anderen Stelle den Tod erlitt, um seinen alten Eltern einen sorgenfreien Lebensabend zu bereiten und sie vor Not zu schützen. Mit beredten Worten schilderte sie alsdann, wie ihr Sohn für seine Selbstaufopferung und edle Kindesliebe zu Ehre und Ansehen gelangen und den wohlverdienten Lohn empfangen werde, während sie alsdann von der Hölle aufblicken und ihn bitten müssten, Mitleid mit ihrer Qual zu haben.  
Der Unglückliche versuchte seine Leiden in Geduld zu tragen; aber die furchtbaren Qualen standen auf seinem Gesicht geschrieben und erpressten ihm schließlich laute Schmerzensrufe. Er flehte die Umstehenden an, ihn doch von der namenlosen Pein zu befreien, erklärte laut, dass er unschuldig sei und an eines anderen Statt leide und bat die anwesenden Freunde den Mandarinen den wahren Sachverhalt zu offenbaren und ihn von seiner Qual zu erlösen. Sehnlichst verlangte er nach dem Tode, man möge ihn erschießen oder erstechen, nur auf irgendeine Weise den entsetzlichen Qualen ein Ende machen. Dieses Jammergeschrei wechselte ab mit kläglichen Rufen nach Wasser.
Während der Vater alle bisherigen Bitten mit einem dumpfen Schmerzenslaut beantwortet hatte, ließ er alles im Stich, sobald das Verlangen nach Wasser sich den Lippen des Unglücklichen entrungen hatte. So schnell ihn seine alten Füße tragen konnten, holte er eine Stange herbei, befestigte einen mit Wasser gefüllten Becher daran und bot dem halb Verschmachteten die einzige Erquickung, die er imstande war zu geben. Nur wenige Tropfen konnte der Ärmste auf diese Weise erhaschen; aber sie verschafften ihm doch eine kleine Erleichterung und für den alten Vater war es eine Beruhigung, den brennenden Durst wenigstens für einen Augenblick gestillt zu haben.
Auch der Mutter Hinweis auf das sorgenfreie Alter, welches seine Leiden den Eltern erkauften, so wie deren wiederholte Versicherung, dass die Götter solche Kindesliebe nicht unbelohnt lassen würden, schienen ihm für einen Augenblick Trost zu gewähren, wenigstens verstummte daraufhin zuweilen das Jammergeschrei. Auf ihre Vorstellung wie bald nun seine Leiden zu Ende seien und dass er alsdann in der Geisterwelt den wohlverdienten Lohn empfangen werde, den seine Eltern für ihn zu erflehen nicht aufhören wollten, stieß er unter herzzerreißendem Stöhnen hervor: "Wahrhaftig, für meine Eltern ist mir nicht leicht etwas zu viel; aber diese Schmerzen sind unerträglich. Wenn nur der Tod nicht so lange auf sich warten ließe! Wenn ihr mich lieb habt, so beschleunigt ihn auf irgendeine Weise. Gebt mir Gift oder erstecht mich, damit endlich diese entsetzlichen Qualen ein Ende nehmen."
Den ganzen Tag über lösten sich die Zuschauer ab, so dass das Kreuz immer von einer Menge Menschen umringt war. Lange schon waren die Schmähungen verstummt; man hörte nur noch Worte des Mitleids und der herzlichsten Teilnahme. Die es am längsten am Fuße des Kreuzes ausgehalten hatten, empfanden das größte Mitleid; sie waren es auch, welche Späterkommenden etwaige Spottreden verwiesen. Es müsste auch einer ein Herz aus Stein gehabt haben, um nur eine einzige Stunde solche Qualen mit ansehen zu können, ohne tiefstes Mitleid zu empfinden. Die wiederholte Versicherung der Mutter, ihr Sohn sei unschuldig und sterbe freiwillig an eines anderen Statt, um seinen Eltern ein sorgenfreies Alter zu verschaffen, blieb auch nicht ohne Wirkung. Besonders als solche, welche den Sachverhalt genau kannten, die Wahrheit solcher Versicherung verbürgten, wurde mancher anfangs feindlich Gesinnte zum teilnehmenden Freunde und zollte dem edlen Sohne aufrichtige Bewunderung und Verehrung. Kindesliebe findet nämlich in China allgemeine Anerkennung und wird auf das sorgfältigste gepflegt, so dass Beispiele wie das eben angeführte gar nicht so ungewöhnlich sein dürften. Dennoch fiel es keinem ein, den Mann zu befreien. Das Verbrechen war erwiesen: der unglückliche, junge Mann hatte sich bereit erklärt, die Strafe zu tragen, folglich war nichts für ihn zu tun. So großes Mitleid die Umstehenden auch fühlen mochten, hätte doch keiner es gewagt, das elende Opfer eines grausamen Herkommens der Strafe zu entziehen.
Mit wenig Unterbrechungen dauerte das herzzerreißende Jammergeschrei des Unglücklichen den ganzen Tag fort; gegen Abend traten längere Pausen ein; die Schmerzenslaute drangen nicht mehr so Mark und Bein erschütternd durch die Luft; der Ruf nach Wasser ertönte nur noch mit schwacher Stimme, allem Anschein nach hatten die Kräfte bedeutend nachgelassen. - Die Menge war mit einbrechender Dunkelheit in die Stadt zurückgekehrt und als es dunkel wurde, standen nur noch zwei einsame Wächter am Fuße des Kreuzes.
"Endlich sind sie fort," kam es da mit fieberhafter Hast von den Lippen des Sterbenden, "lasst mich nicht noch länger warten!"
"Es steht schon lange bereit," erwiderte die Mutter mit leiser Stimme, doch so, dass der Sohn sie verstehen konnte; "der Vater wird dir's sogleich geben." Und diesmal war es nicht Wasser allein, welches ihm mit Hilfe der Stange hinaufgereicht und dem sehnsüchtig Harrenden einige Minuten vor den Mund gehalten wurde. Nachdem der Vater die Stange wieder heruntergezogen hatte, blieb das Elternpaar schweigend am Fuße des Kreuzes stehen, nur mit den Händen zärtlich die ersterbenden Gliedmaßen des Sohnes reibend.
Seine Klagerufe drangen nicht mehr hinaus in die Nacht; das Stöhnen wurde schwächer und immer schwächer, bis es gänzlich erstarb. Ein letzter Seufzer entrang sich den bleichen Lippen. Die Gestalt des Sterbenden erbebte leise; dann war alles still. Der Trank hatte seine Wirkung getan, der Todeskampf war vorüber, der Gekreuzigte endlich von seinen Qualen erlöst. -
Als der Morgen graute, saßen die beiden treuen Wächter immer noch unter dem Kreuze und blickten wohl wehmütig, aber doch mit unverkennbarem Stolze in das bleiche Antlitz ihres toten Sohnes. Ihnen war er mehr als ein geliebtes Kind; sie verehrten ihn beinahe wie einen Gott. Und doch war er nur ein Chinese, einer jener halbzivilisierten Wesen, von denen die Welt nur mit Verachtung spricht.
Doch warum teilen wir diese Begebenheit, welche der "Allg. Missions-Zeitschrift" von Warneck entnommen ist, mit? Nicht so sehr, um Bewunderung für den Sohn hervorzurufen, der seinen alten Eltern zu Liebe eine derartige Todesstrafe auf sich nahm, sondern, damit wir in diesen Tagen, wo wir des Leidens und Sterbens unseres Herrn und Heilandes gedenken, auch recht bedenken, was der Herr erduldet hat. Wir haben es von Jugend auf gehört, dass Jesus gekreuzigt ist; aber was das in sich schließt, an Qualen und Schmerzen, das ahnen wir nicht und oberflächlich, wie wir von Natur sind, denken wir in der Regel nicht viel darüber nach. Da kann uns die obige Erzählung zum tieferen Einblick in die körperlichen Leiden dienen, die der Herr am Kreuze erduldet hat. Und diese Leiden waren ja noch nicht die schwersten - was hat erst seine Seele gelitten! Und da Er das alles für uns getan hat, so lasst uns doch bedenken, was es ihn gekostet hat, uns zu erlösen und lasst uns ihm das Wenige, was der Herr von uns fordert, gern opfern, damit Er auch an uns den Lohn Seiner unendlichen Schmerzen empfängt.

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel 1132
© Alle Rechte vorbehalten