Der Spiegel

Als Gotthold in eine schöne Stube kam, in welcher unter anderem auch ein heller großer Spiegel hing, darinnen man im Auf- und Niedergehen sich selbst gar eigentlich abgebildet sah, gerieth er darüber auf folgende Gedanken: niemand kann sich selbst unter dem Gesicht betrachten, wo er nicht den Spiegel, oder was spiegelartig ist, zu Hülfe nimmt; also ist niemand, wie verständig er auch sonst ist, klug genug und scharfsichtig in seinen eignen Sachen, sondern er muß erfahren, daß ein anderer, der es aufrichtig meint, ihm seine Beschaffenheit besser, als er selbst vorstellen kann; zweifelsfrei hat es der allweise Gott also verordnet zu dem Ende, daß nicht der Mensch sein selbst eigen Abgott würde und andere für Schatten und Schwämme hielte. Er giebt einem Kinde einen Apfel in die Hand, damit die andern ihm nachfolgen und brüderlich mit ihm spielen mögen; er macht aus der Noth, und daß einer des andern bedarf, einen Liebesgürtel, damit er uns sämmtlich verbinden will, allermaßen wie er auch in einem Lande nicht alles wachsen läßt, damit ein Volk mit dem andern durch Kaufmannschaft zum Frieden und nachbarlich gutem Vertrauen möge vereinbart werden. Wie sind’s doch denn so thörichte Leute, die Sonderlinge, die sich im betrüglichen Spiegel der Eigenliebe beschauen, meinend, alle Welt bedürfe ihrer, sie aber bedürfen niemandes; sie haben und wissen alles, andere nichts. Von diesen hat der weiseste unter den Königen wohl gesagt: Ein Narr hat nicht Lust am Verstand (und verständigem wohlgemeintem Einrathen anderer Leute), sondern an dem, was in seinem Herzen steckt (und wächst, welches zuweilen lauter Nesseln und Disteln zu sein pflegt.) Sprüchw. 18, 2. Mein Gott! laß mich nicht in die thörichte Hoffart gerathen, die da meint, daß aller Menschen Witz bei ihrer Weisheit zu Lehen gehe. Gieb mir allezeit einen klugen, gottseligen und treuen Freund, der als ein aufrichtiger Spiegel, was zu meinem Besten dient, mir vor Augen stelle. Sollte es aber daran fehlen, so halte mir allezeit vor den Spiegel deines Worts, vom Glanz deiner Gnade und Geistes bestrahlt, damit ich in Erwählung deß, was meiner Seligkeit dient, nimmermehr fehle.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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