Der selbsterwählte Gotteswille

Ein Reisender erzählte folgende Begebenheit, deren Zeuge er war. "Eines Tages sah ich eine Strecke vor mir her eine Frau gehen, die, wie es sich nachher herausstellte, eine Hausiererin war. Ich bemerkte, wie sie an eine Wegscheide gelangte. Rechts führte der zum herrschaftlichen Schloss. Die Frau stellte ihren Korb zur Erde und schien ungewiss, welche Richtung sie einschlagen wollte. Auf  einmal fing sie an, ihren Stock in die Luft zu werfen, wohl zwölfmal nacheinander. Dann wandte sie sich rechts zu dem Bauernhaus. Ich hatte zufällig dasselbe Ziel und holte die Frau nach einigen Minuten ein. Ich knüpfe gleich ein Gespräch mit ihr an und fand bald Gelegenheit, sie zu fragen, was das Werfen des Stockes zu bedeuten habe und warum sie so lange an der Wegscheide gezögert habe. 
"Ja sehen Sie, mein Herr", versetze die Frau nach mit wichtiger Miene, "wir armen Menschenkinder sind so beschränkt, dass wir nie wüssten, welchen Weg wir einschlagen müssen, wenn Gott es uns nicht selbst zeigte. Deshalb bitte ich ihn immer um seine Leitung, und so bin ich immer richtig geführt worden." 
"Aber was hat das Stockwerfen  damit zu tun?" 
"Das ist eben das Zeichen, durch das ich Gottes Willen erkenne", gab sie zur Antwort. "Die Richtung, welche die Spitze der Stockes nimmt, wenn er zur Erde  fällt, ist der von Gott gewollte Weg, so kann ich mich nicht täuschen."
"Gut, aber warum haben Sie den Stock zu wiederholten Malen geworfen, ich habe, glaube ich, zwölfmal gezählt?"  
"Ja, sehen Sie, mein Herr, der Stock fiel eben nie richtig, wie ich wollte, und da habe ich's immer wieder probiert bis er recht kam." 
"Mir graute", fuhr der Reisende fort, "vor dieser heuchlerischen Weise, den Willen Gottes zu erforschen mit einem Herzen, das entschlossen war, dem eigenen Willen zu folgen."

Quelle: Der ewig reiche Gott, Dietrich Witt, Beispiel
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