Der Schrei einer erwachten Gottesdienst-Schläferin

Da der Raum für die vielen Menschen zu klein war, verbrauchte sich die Luft schnell. Hinzu kam, dass es ein warmer Tag war. Außerdem hatte der junge Mann, der an diesem Sonntag predigte, keine besonders kräftige Stimme. Es war seine erste Predigt. Deshalb hielt er sich besonders eng an sein Konzept. Er las es ab und wagte kaum, dabei aufzusehen. Darüber schlief eine alte Frau ein, die blind war.
Ein etwa zwölfjähriger Junge vertrieb sich die Zeit auf seine Weise. Er war mit dem Stuhl seines Vordermannes beschäftigt und hatte die Füße auf die dort angebrachte Liederbuchablage gestellt. Aber plötzlich brach das Brett ab. Das gab einen solchen Lärm, dass die alte Frau davon aufwachte. Sie sagte ruhig und besänftigend, aber doch so laut, dass es jeder hören konnte: "Ach Butje, Butje." Sie war eine Hamburgerin und meinte im ersten Erwachen, sie wäre in ihrer Wohnung und ihr Wellensittich hätte irgendetwas Dummes angestellt.
Aber plötzlich begriff sie, dass sie im Gottesdienst saß, und sie stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ich habe heute noch eine Tonbandaufnahme davon, und immer, wenn ich den Schrei höre, geht es mir durch und durch. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war jeder Gottesdienstbesucher wach. Aber auch unser junger Prediger war so erschrocken, dass er nach zwei Sätzen seine Predigt beendete.
Manchmal denke ich, dass wir mehr solcher Schreie brauchen. Wir brauchen jemand, der uns herausreißt aus unserer frommen Beschaulichkeit, bei der wir oft nicht mehr wissen, um was es eigentlich geht. Wie ist es sonst möglich, dass ein Chor ein Lied von der Freude Gottes singt, aber die Sänger ein Gesicht machen, als wäre das die langweiligste Geschichte der Welt? Oder dass jemand einen Bibeltext von der überwältigenden Liebe Gottes liest und dabei so unbeteiligt wirkt wie der Sprecher der Tagesschau? Da möchte ich am liebsten dazwischenschreien und wie Philippus fragen: "Verstehst du auch, was du da liest?" (Apostelgeschichte 8,30). (Peter Strauch)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1067
© Alle Rechte vorbehalten