Der Schieferdecker

Als an einem bekannten Ort ein Schieferdecker eine vom Winde beschädigte Thurmspitze bestiegen und nunmehr die Höhe derselben erreicht hatte und auf dem Knopf stand, ließ er sich einen Trunk Wein in einer Kanne und danebst ein Glas geben, schenkte sich selbst ein und trank unterschiedliche Mal auf Gesundheit einer und anderer vornehmen Person solchen Orts, welches männiglich und auch Gotthold mit furchtsamer Verwunderung ansah und darauf sagte: Es nimmt uns Wunder, daß dieser Mensch in solcher augenscheinlichen Gefahr, die wir ohne Grausen nicht bedenken können, ohne Furcht stehen, reden und trinken kann. Mein, sagt mir aber, ist wol unser einer, die wir hier auf flacher Erde stehen und ihm zusehen, mehr seines Lebens einen Augenblick sicher, als er Ihn könnte ein geringer Wind, ein weniges Gleiten, ein unvermuthlicher Schwindel von dannen herabstürzen, uns kann ein unversehener Fall oder Wurf oder Schuß, eine plötzliche Krankheit, der Schlag oder eine andere in geschwinder Eile aus der Welt fortschicken, wie die Erfahrung lehrt. Ich weiß Exempel, daß einer auf der Kanzel stehend predigt und einen jungen Prediger zu seinem Amt einführt und der Tod führt ihn plötzlich in die Ewigkeit ein. Ein vornehmer und berühmter Arzt und Lehrer bei einer hohen Schule ist auf einer Waise Hochzeit, die ihn zum Vater erbeten hatte; als er mit ihr nach des Orts Gewohnheit den ersten Ehrentanz thut, fordert ihn der Tod unvermuthet an seinen Tanz und eilt mit ihm ans der Welt. Ein Barbier hilft eine adelige Leiche zu Grabe tragen, und nachdem dieselbe ins Grab gelassen, will er nebst andern helfen, das Grab füllen, fällt aber um und bleibt stracks todt und füllt also sein selbst eignes Grab. Eine Dienstmagd will aus einem großen Sack Malz ins heiße Wasser schütten, der aber etwas entweicht, daß sie selbst hineinfällt und eilend ums Leben kommt. Eine andere geht vors Thor und will Sand holen; da aber der Berg schon eine große Höhle hatte und sie dennoch dahinein kriecht, fällt er über sie her und begräbt sie lebendig mit viel Fudern Erde. Dergleichen Fälle sind nicht selten, und dennoch achten wir es nicht. Wir stehen auf der Spitze der Ewigkeit und essen, trinken und sind sicher! Mein Gott! ich weiß gar nicht, wie, wo und wann der Tod auf dein Geheiß meinem Leben ein Ende machen wird. Darum sei jetzt und allezeit dies mein Vertrag im Glauben mit dir, mein Gott! daß ich dir lebe, dir sterbe, und lebendig oder todt dein sei und bleibe.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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