Der Schatten
Als Gotthold zur Abendzeit spazieren ging, sah er, daß der Schatten, wie man um solche Zeit gewohnt ist, gewaltig zunahm, so daß sein eigner Schatten einem hohen Baum an Länge nichts zuvorgab. Wenn ich nicht sähe, sprach er bei sich selbst, die liebe Sonne ihrem Niedergang zueilen, so könnte es mir doch der Schatten sagen, daß die Nacht nicht weit ist. So gehts auch im menschlichen Leben zu; wenn das eitle Gepränge, das Schattenwerk der Pracht und der Hochmuth steigt und zunimmt, so ist der Untergang der Wohlfahrt eines Hauses nicht weit; wenn man das Schattenwerk der Ehrenworte weit ausdehnt, so geht die Aufrichtigkeit und Vertraulichkeit schlafen, und weit nunmehr alle Welt sich größer dünkt, als sie ist, und sich bei dem Schatten, welchen ihr andere durch Schmeichelei machen, mißt, weil man dies eitle Leben und die schnöden Lüste desselben, welche lauter flüchtige Schatten sind, mehr liebt und sie höher hält, als billig ist, so fehlts nicht, der Abend ist nicht weit. Herr Jesu! die Sonne geht zwar unter, ich kann aber nicht wissen, ob du nicht diese Stunde zum letzten und ewig währenden Tage aufgehen möchtest! Komm, Herr Jesu! Himmel und Erde sind müde, wir deine Gläubigen sind auch müde, komm und mach der Eitelkeit ein Ende und bringe uns in der Ewigkeit zur Ruhe!
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