Der russische Dichter Tolstoi

Der Weg der Selbsterlösung. Erschütternd ist die Geschichte vom Lebensende des großen russischen Dichters Tolstoi, eines Mannes, der so sehnsüchtig nach Erlösung und neuem Lebensanfang sich sehnte und doch aus dem Bannkreis seines eigenen Ich nicht herauskam. Er wagte es nicht, sich wirklich selbst aufzugeben und sein ganzes Leben auf Gott zu werfen, sondern versuchte es immer wieder, ein wirklich vollkommener Mensch zu werden; also Zuflucht zum besseren selbst zu nehmen. Tolstoi hatte eine stürmische Jugend verlebt. Er hatte vom dasein mitgenommen, was sich nur mitnehmen ließ. Dann war er aber ein anderer geworden. Er wollte arm sein, einfach leben, auf dem Lande wie der Bauer sich mit seiner Hände Arbeit das Brot verdienen. Er wollte streng nach den Regeln der Bergpredigt mit seinen Mitmenschen verkehren. Tolstoi hat sich sehr gemüht, und in seinem Vaterland hielt man ihn für einen Heiligen und Büßer. Tatsächlich aber war er, und mit Recht, sehr unzufrieden mit sich selbst. Er fand die Freiheit nie, nach der er verlangte. Er litt furchtbar darunter, dass er immer noch der reiche Gutsherr von Jasnaja Poljana blieb, wenn er auch den Befitz auf den Namen seiner Frau hatte übertragen lassen er litt auch unter der Verständnislosigkeit seiner Umgebung, besonders seiner Frau, die Theater und Konzerte und die Abwechslungen des modernen Lebens brauchte, und der er nicht recht entgegenzutreten verstand. In seinem 82. Lebensjahr ist er dann endlich ausgebrochen. In einer finsteren Sturmnacht schlich er sich heimlich von Hause fort. Er wollte in ein Kloster, den Rest seiner Tage wollte er in einsamer Zwiesprache mit Gott verbringen. Sein Ziel hat er nicht erreicht. Er starb unterwegs an einer Lungenentzündung, gequält, freudlos, von Gespenstern verfolgt. Die Bibel nennt den Weg eines Tolstoi den der "selbsterwählten Geistlichkeit" (Kolosser 2,23). Es ist der Weg der Selbsterlösung. 
Nach: "Sonntagsbrief"
s. a. Nr. 02854

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 719
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