Der reichste Mann des Dorfes

Der reichste Mann des Ortes war der Landgerichtsrat. Stolz sah sein vornehmes Haus von dem Berghang, an den es gebaut war, auf die vielen Landhäuschen herab und schien hochmütig zu sagen: Ich throne doch über euch allen! Die Dorfbewohner erzählten den Fremden voll scheuer Ehrfurcht von den großartigen Schätzen, feinen Möbeln und klassischen Kunstwerken, die seine Mauern bargen. Sie bildeten sich ordentlich etwas darauf ein, dass solch ein reicher Mann in ihrem Dorfe wohnte, und zeigten mit Vorliebe als besondere Sehenswürdigkeit seinen mit Purpur bezogenen und von kostbaren Vorhängen umgebenen Kirchenstuhl sowie den großen Grabstein auf dem Kirchhof, der die lange Ahnenreihe des Herrn Rat aufzeichnete.
Dem Landgerichtsrat war bekannt, welche Achtung man ihm erwies, und er sah es gern. Er war stolz, aber nicht auf seine biederen Nachbarn, sondern auf sich und seinen Reichtum. Wenn er ausfuhr, verneigte sich jedermann, der ihm begegnete. Kam er zu Fuß des Weges einher, machten ihm Alt und Jung Platz. Überall wurde er geehrt und geachtet. Er erwarb sich auch die Zuneigung seiner Untergebenen. Jedes Jahr veranstaltete er ihnen einen besonderen Schmaus, und an den Festtagen sandte er allen Armen des Ortes Geschenke. Sie waren arm, und er war reich - er war ganz froh über diesen Unterschied.
An einem Sommermorgen machte er seinen Spazierritt durch den Wald, der die eine Seite seines Besitzes begrenzte.
In dem kühlen Schatten des Waldes überließ er seinem Pferd die Zügel. Es trabte auf den gewohnten Wegen. Bald zog die schöne Landschaft mit ihren hohen Eichen und Buchen seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich. Der Sonnenglanz, der hier und da auf den von leichten Lüftchen gefächelten Zweigen zitterte oder auf dem Wege verschiedentlich wie ein Silberstein spielte, erinnerte ihn an die im Lichte gleißenden, goldenen und silbernen Kostbarkeiten seines Heims. Dann erinnerte er sich des gestrigen Nachmittages. Zur Feier des Geburtstages seines ältesten Sohnes war eine große Anzahl Freunde zu einem Festmahl versammelt, so großartig, wie es nur ein reicher, Prunk liebender Mann veranstalten kann. Die ausgesuchtesten Leckereien und ältesten, edelsten Weine wurden aufgetragen, aus kostbarem Porzellan mit silbernen und goldenen Bestecken die seltenen, ausgezeichneten Tafelgenüsse gespeist und aus fein geschliffenen Gläsern bis in die späte Nacht die feurigen Weine getrunken. Er dachte jetzt an die fröhliche Stimmung der Gäste, an die Reden, die gehalten, an die Komplimente, die so freigebig gespendet und wohlgefällig angenommen worden waren. Voll Stolz dachte er daran, dass gesagt wurde, es habe seit Menschengedenken niemand in der ganzen Gegend ein so großartiges, glänzendes Fest gesehen und gefeiert wie an diesem Tage.
Das Pferd trabte langsam weiter. Auf dem weichen, samtartigen Gras- und Moosteppich hörte man kaum seinen Hufschlag. Plötzlich drang ein leiser Ton aus der Nähe an das Ohr des Gerichtsrats. Er wunderte sich, dass außer ihm noch ein Mensch im Walde sein könnte. Sein Pferd anhaltend, lauschte er einen Augenblick. Jemand betete einfältig.
"Wer mag hier beten?", fragte er sich. Dann bog er die Zweige vor sich zur Seite und spähte hindurch. Nicht weit vom Wege sah er in einer kleinen, schattigen Höhle den Waldgast, einen alten Armen des Dorfes, der ihn schon manchmal auf der Straße um ein Almosen angefleht hatte.
Aber was machte der alte Mann jetzt? Er betete. Mit geschlossenen Augen und empor gewandtem Antlitz, den abgetragenen Hut zwischen seinen arbeitsharten Fingern, vor sich als kärgliche Mahlzeit ein trockenes Stück Brot und einen Becher Wasser - so dankte der alte Mann seinem himmlischen Vater in aller Zufriedenheit für diese Gabe. Er schien mehr als zufrieden zu sein. Ein Ausdruck heiliger Freude lag auf seinem zum Himmel gerichteten Angesicht. Solch dankbar zufriedenen, ja verklärten Gesichtsausdruck hatte der Herr Rat an seiner reich gedeckten Tafel noch nie bemerkt. Und dieser alte Mann war Gott dankbar für Brot und Wasser! Das war dem reichen Manne unverständlich. Sollten Brot und Wasser bei dankbarem Herzen besser schmecken können als die feinsten Speisen an vornehmer Tafel? Er hatte in seinem großen Besitz und in allem Reichtum noch nie einen Anlass erblickt, Gott dafür dankbar zu sein.
Er ließ die Zweige los, und gar bald ruhte auf seinem Gesicht wieder der gewöhnliche, selbstzufriedene Ausdruck. Aber während des Morgenritts trat immer wieder das Bild vor ihn, das er in der Höhle gesehen hatte: Der Mann, der Gott für Brot und Wasser dankte. Hatten seine Reichtümer ihn jemals so glücklich gemacht wie diesen Mann mit seiner einfachen Mahlzeit? Er musste sich gestehen, dass das nicht der Fall war. Sein Stolz war empfindlich getroffen, und sein Herz klopfte unruhig. Je weiter er ritt, desto mehr steigerte sich seine innere Unruhe.
Auf einmal verdunkelte sich die eben noch freundlich strahlende Sonne. Schwarze Wolken zogen sich zusammen, und im Walde wurde es dunkel und unheimlich. Ein bedrückendes Gefühl überkam den Gerichtsrat, das er nicht zu erklären wusste. Es war wie eine Ahnung kommenden Unheils. Da glaubte er eine Stimme zu vernehmen, nicht von dieser Welt, sondern eine, wie Gott sie manchmal zu unsrem Besten schickt. Die Worte vernahm er klar und bestimmt:
"In dieser Nacht wird der reichste Mann des Dorfes sterben."
Ernst und feierlich klang dies. Der Gerichtsrat blickte sich nicht um, er wusste, dass eine innere Stimme gesprochen hatte, und er glaubte, was sie sagte.
Mit Schrecken erinnerte er sich wieder einmal des Gleichnisses vom reichen Mann im Evangelium, an den dieselbe Warnung ergangen war: "Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern!"  Bibelverse, die er in der Schulzeit einmal flüchtig gelernt und dann wieder vergessen hatte, fielen ihm ein und steigerten seine Seelenangst:
"Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse?"
Diese Worte klagten ihn schwer an, und es überlief ihn kalt. Er kam sich vor, als habe er seine Seele für die trügerischen Freuden des vergänglichen Mammons verkauft. Unfähig, die innere Unruhe länger zu ertragen, sprengte er nach Hause.
Hier kam er in großer Aufregung an und ließ sofort nach dem Arzt senden. Seine Frau und Kinder versetzte dies in nicht geringen Schrecken. Auf alle ihre Fragen gab er nur zur Antwort, dass er bald sterben werde und sich hierauf vorbereiten müsse. Vergebens versuchten sie, ihn davon zu überzeugen, dass seine Gesundheit ausgezeichnet und seine Todesfurcht nur eine nervöse Erregung sei. Der Arzt kam und lächelte über seine unbegründete Angst; aber der Gerichtsrat beachtete weder Spott noch freundliches Zureden. Den Tod könne man nicht durch wohl gemeinte Vorhaltungen oder gutmütiges Lächeln vertreiben, er sei halt zum Tode bestimmt. So meinte er. Was kümmerte es ihn, was andere darüber sagten!
Sein Verwalter wurde gerufen, damit sein Herr ihm die nötigen Anweisungen für die Bewirtschaftung aller Grundstücke nach seinem Ableben erteile. Das Testament war bereits niedergelegt: Seine Frau und die Kinder waren alle versorgt, Häuser und Ländereien unter seinen Lieben verteilt. Nun hatte er nichts mehr zu tun, als sich selbst auf den großen Wechsel vorzubereiten - doch das fand er unmöglich. In großer Unruhe erwartete er den Tod.
Als die Nacht anbrach, stieg seine Angst noch mehr. Jedesmal, wenn die große Turmuhr die Stunde schlug, schrak er zusammen. Der Arzt und der Verwalter blieben auf seine Bitte hin bei ihm, aber sie konnten ihn doch nicht beruhigen, sondern nur seinen zusammenhanglosen Worten lauschen, die den verwirrten Äußerungen eines Wahnsinnigen glichen.
Stunde um Stunde verrann, jede quälvoll und lang. Der reiche Mann in seinem kostbaren Bett, jeden Augenblick auf den Tod gefasst, litt furchtbar unter dem Gedanken, wie arm und hilflos er doch eigentlich sei und wie wenig ihm all sein Reichtum jetzt nütze. Mitternacht ging vorüber, der Morgen kam, der erste Schimmer des neuen Tages lag schon auf den Hügeln. Mit dem ersten hellen Schein, der ins Zimmer fiel, kehrte auch wieder Farbe in die Wangen des von Todesangst gepeinigten Mannes. Der Tod war nicht gekommen, wie er befürchtet hatte; er lebte noch. Die Prophezeiung dieser geheimnisvollen Stimme hatte sich nicht erfüllt. Er erhob sich von seinem Lager, seine Familie versammelte sich um ihn, beglückwünschte ihn lächelnd und riet ihm, jetzt, wo die Gefahr vorüber sei, zu ruhen. Aber wie konnte er nach solch einer Nacht ruhen, nach solch qualvoller Offenbarung der Nichtigkeit irdischen Reichtums! Er zog es vor, einen Spaziergang zu machen, und nachdenklich ging er langsamen Schrittes ins Freie.
Im Dorfe hörte er, dass in dieser Nacht der Tod tatsächlich jemanden abgerufen hatte. Aber anstatt in seinem großen Hause war er in der ärmlichsten Hütte des Dorfes erschienen. Jener arme Alte, den er tags zuvor in der Waldhöhle erblickt hatte, war gestorben.
Noch nachdenklicher kehrte der reiche Mann heim. Sein Herz klagte ihn an. Er erinnerte sich genau, wie er den alten Mann gestern in der Höhle vorgefunden hatte. Im Geiste sah er den Greis vor sich, der für seine einfache Mahlzeit mit empor gewandtem Angesicht, auf dem ungewöhnlicher Glanz lag, Gott dankte. Er erinnerte sich noch an jedes Wort, das jener gesprochen hatte, und auch an sein eigenes spöttisches Lächeln. Diese Erinnerungen beschämten ihn tief. Wie hart und herzlos war er doch solcher Armut gegenüber! Wie undankbar war er in all seinem Glück gegen Gott! Wie schnell konnte auch sein letztes Stündlein schlagen! Nichts würden ihm dann all seine Schätze helfen. Würde ihn dereinst bei der großen Abrechnung seines Lebens jener arme Alte durch seine Frömmigkeit nicht beschämen?
Solche Gedanken stürmten auf ihn ein und ließen ihn schließlich neue Vorsätze fassen.
Als er zu Hause ankam, empfing ihn seine Frau lächelnd. Sie war froh, ihn vernünftig wiederzusehen, begleitete ihn ins Haus, und als sie dann an seiner Seite saß, schalt sie ihn freundlich wegen seiner unbegründeten Todesfurcht in der letzten Nacht, der "abergläubischen Einbildung", wie sie diese nannte.
"Ich hoffe nun", fügte sie hinzu, "dass du einsiehst, dass jene geheimnisvolle Stimme nichts als eine Täuschung war. Ihre Unwahrheit hat sich ja erwiesen: Die Nacht ist vorbei. Du lebst und bist wohl."
"Gewiss", erwiderte er, "die Nacht ist vorbei, und mir ist wohl. Aber jene Stimme hatte doch Recht. Heute Nacht ist der reichste Mann des Dorfes gestorben. Wenn du drunten nachfragst, wird man es dir bestätigen."
"Wer könnte das wohl sein?", fragte sie spöttisch lächelnd, "Wer ist hier reicher als wir?"
Er erwiderte: "Der Mann, der zu Gott sagen kann: 'Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.' Ich kann dies nicht sagen; denn ich habe nach vielen Dingen und Menschen mehr gefragt als nach Gott. Aber ein alter, armer Mann, der ärmste im Dorf, besaß in Gott alles. Gestern war er noch munter und seines Lebens froh. Ich nenne ihn arm; aber er war doch wahrhaft reich - ein Erbe des himmlischen Königreichs. Letzte Nacht wurde ich mir seines Reichtums und meiner Armut bewusst. Im Dorf wird man dir erzählen, dass er heute Nacht gestorben ist; er hat sicherlich nicht so viel hinterlassen, dass sein Begräbnis bezahlt werden kann. Und doch war er der reichste Mann im Dorfe."

Quelle: Lebensbilder, Paulus Langholf, 1960
© Alle Rechte vorbehalten