Der Morgenstern

Als Gotthold bei früher Tageszeit sah den Morgenstern in seiner schönen Pracht daher traben, dachte er bei sich selbst: nun wüßte ich nicht, ob nicht ein halb viehisches Herz über diesen so lieblich hellen Stern erstaunen würde, wenn es denselben zuvor nie gesehen und wahrgenommen hätte. Man sagt oft und zuweilen fälschlich von neuen Wundersternen. Mich däucht dieser Stern, so oft ich ihn erblicke, einen neuen und größern Glanz überkommen zu haben und ein sonderliches Wunder des Himmels zu sein.

Ich erinnere mich aber billig deiner dabei, mein allerschönster Herr Jesu! weil du dich selbst einen hellen Morgenstern nennst. Off. 22,16. Der Morgenstern ist nicht feuerroth, wirft auch nicht mit funkelnden Flammen um sich, sondern sein liebliches hellweißes Licht spielt so anmuthig mit den allerschönsten silberhellen Strahlen, dass man sich daran nicht satt sehen kann. Also bist du, mein Herr Jesu! nicht stürmisch, unbarmherzig und zornig, sondern bestrahlst uns mit dem Glanz deiner göttlichen unbegreiflichen Liebe so süßiglich, dass nur der dich nicht liebt, der dich nicht kennt oder kennen will. Meine Seele wird nicht müde, dich anzuschauen, weil sie niemals an dich gedenkt, dass sie nicht ein sonderliches Trostlicht in sich verspüren sollte.

Wenn der Morgenstern aufgeht, so ist der Tag nicht weit; also, wenn du, mein Herr Jesu! mein Herz erleuchtest, so wird es Tag; die Finsternisse der Sünde, der Unwissenheit und Traurigkeit verschwinden, und der Tag des Heils gibt mir Licht und Freudigkeit, vor dir auf dem Wege des Friedens und der Gottseligkeit zu wandeln. Mancher sagt, er habe keinen Stern oder Glück, ich sage: ich habe einen trefflichen Stern am Himmel, der mir sonderlich wohl will, und das bist du, du heller Morgenstern, Herr Jesu! Und von dir hab ich Glück, Segen und Heil zu allem und in allem, was ich in deinem Namen angreife und vornehme.

Was ist’s, o Jesu! das ich nicht
An deiner Liebe habe? 
Sie ist mein Stern, mein Sonnenlicht, 
Mein Quell, da ich mich labe, 
Mein süßer Wein, mein Himmelsbrot, 
Mein Kleid vor Gottes Throne, 
Mein, Krone, 
Mein Schutz in aller Noth, 
Min Haus, darin ich wohne

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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