Der Mensch ist keine Waldzecke

Eine Waldzecke ist für unsere Begriffe ein unvorstellbar armes Lebewesen. Es hat keine Augen, nur einen allgemeinen Lichtsinn der Haut, der lediglich hell und dunkel wahrnehmen kann; es hat kein Gehör und lebt folglich in einer lautlosen Welt; es hat kein Geschmacksempfinden, vermag sauer und süß nicht zu unterscheiden. Sein Geruchssinn ist auf einen einzigen Reiz programmiert - auf Buttersäure.
Da sitzt nun die Zecke auf dem Waldboden und bekommt das Signal "dunkel". Dieser Schlüsselreiz löst wiederum ein Signal aus: "Jetzt musst du klettern."
Also beginnt dann die Waldzecke aufwärts zu krabbeln, einen Baumstamm empor, bis sie auf einem Ast sitzt und das Signal "hell" bekommt. Das heißt für sie: "Sitzenbleiben." So bleibt sie sitzen, hört nichts, sieht nichts, schmeckt nichts, bis unter dem Baum ein Reh vorbeiläuft und den Geruch von Buttersäure ausströmt. Das ist ein erneuter Schlüsselreiz, der signalisiert: "Sofort sich fallen lassen." Unsere Waldzecke stürzt senkrecht nach unten. Wenn's "daneben" ging, heißt es wieder "dunkel", und das bedeutet klettern. Wieder geht's nach oben. Wenn unsere Waldzecke jedoch Glück hat, landet sie auf dem Rücken des Rehs. Dessen Wärme löst das Signal aus "Krabbeln, festsaugen, anzapfen!" Nach einer solch gelungenen Nahrungsaufnahme kann unsere Waldzecke erwiesenermaßen 18 Jahre lang ohne weitere Nahrungsaufnahme leben.
Ist die Zecke nun wirklich ein so armes Lebewesen? Einerseits kann man sie aus Menschenoptik sicher nur bedauern, denn sie lebt in einer unvorstellbar geschrumpften Welt: Nichts sehen, nichts schmecken, nichts hören, kaum etwas fühlen, nur einen einzigen Geruch wahrnehmen. Und doch ist sie andererseits reich, ist mit allem ausgestattet, was sie zum Leben braucht. Sie muss keine großen Überlegungen anstellen, alles läuft in den festen Bahnen des Instinkts.
Das ist das Großartige bei Tieren, dass sie ganz selbstverständlich leben können. Sie werden zum Beispiel nicht von der Frage geplagt: "Was soll ich tun? Was soll ich lassen?" Was ein Tier tut, das soll es, und was es soll, das kann es auch - es sei denn, dass der Mensch anfängt, es zu dressieren und die Harmonie durcheinanderbringt. Aber normalerweise bilden beim Tier Sollen und Können eine große Einheit. Darin ist es wunderbar geborgen. Alles ist vorprogrammiert.
In 1.Mose. 2 und 3 lesen wir dann von der Menschwerdung des Menschen und damit vom Unterschied zu der eben erwähnten Waldzecke. "Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon issest, musst du des Todes sterben" (1. Mose 2.16,17). Hier finden wir zweierlei: Zunächst einmal eine großartig weite Armbewegung Gottes: Die ganze Welt gehört dir; bitte, bediene dich! Im Anschluss daran dann ein Gebot, genauer ein Verbot: Von dem einen Baum sollst du nicht essen. Weite und Grenzziehung!
Dies ist der grundlegende Unterschied zur Waldzecke: Der Mensch kann davon essen, aber er soll nicht. Können und Sollen brechen auseinander. Dieses Wesen ist gefragt: Was willst du? In diesem Augenblick entsteht der Mensch. Er wird aus dem Instinktmäßig-Selbstverständlichen herausgeholt und in Möglichkeiten, in Freiheit, hineingerufen. Er darf und muss sich entscheiden; er empfängt Bewusstsein und steht in einer Situation der Wahl. - Das ist im Rahmen der Schöpfung etwas völlig Neues! (Siegfried Kettling)

Quelle: In Bildern reden, Heinz Schäfer, Beispiel 1032
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