Der Maulbeerbaum
Gotthold sah einen Maulbeerbaum mit seinem dicken Laub und theils noch rothen und unzeitigen, theils schwarzbraunen zeitigen Früchten und trat hinzu, weil es eben ein sehr heißer Tag war, und genoß besagten Baumes Schatten und Früchte. Er sagte darauf bei sich selbst: nun, so beißest du doch mit allem Recht der klügste unter den Bäumen, weil du zwar im Frühling der letzte bist, welcher ausschlägt und sich belaubt, dennoch ab; durch solche Langsamkeit deine Frucht vor der Kälte versicherst und nichts desto weniger zu rechter Zeit, wenn nämlich die Hitze am größten, deine kühlenden und erquickenden Träublein bringst. So ist es auch mit meines Gottes Gnade und herzerquickendem Trost bewandt. Mein Herr Jesus ist ja der Baum des Lebens, in mein Herz gepflanzt; es scheint aber zuweilen und dünkt mir in meiner Noth, als hätt er weder Blätter, noch Schatten, noch Früchte zur Erquickung, daß ich denke: Ist denn das grüne Holz verdorret? Luk. 23, 31. Hat denn Gott gnädig und mein Jesus ein Jesus zu sein vergessen? Ach, Herr, wie so lange? wie so lange? Aber, mein liebster Heiland! du hast allezeit die rechte Zeit getroffen. Wenn die Noch und Angst die höchste Stufe hat erreicht gehabt, so bist du zu meinem Trost also ausgeschlagen und so voller Früchte geworden, daß ich habe meine Lust an deiner Gnade sehen, Mich. 7, 9., und sagen können: Ich sitze unter dem Schatten, deß ich begehre, und seine Frucht ist meiner Kehle süß. Hohel. 2, 3. Habe Dank, mein Herr Jesu, für allen Schutz und Trost, dessen du mich mein Leben lang hast genießen lassen! Laß mich ferner nicht und thu die Hand nicht von mir ab, Gott, mein Heil! Ps. 27, 9.
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