Der liegende Baum
Der Wind hatte einen verjährten Obstbaum mehrentheils gefällt und zu Boden gelegt, doch waren die meisten Wurzeln in der Erde verblieben. Weil nun des gefallnen Baums Zweige dem Gärtner viel Unordnung und Unraum machten, hatte er sie alle heruntergehauen und den bloßen Stamm mehr aus Versäumung, als wegen einiger Hoffnung also liegen lassen. Dieser aber hatte neue Sprossen getrieben und zwar gerade auf, daß, obwohl der Stamm der Länge nach mehrentheils auf der Erde lag, die Reiser dennoch gleichauf standen und lustig daher wuchsen. Gotthold dachte: So gehts mit manchen Kindern zu, deren Eltern von einem Unglückswind geniedrigt sind und unter gemeine, arme und verachtete Leute sich müssen zählen lassen; fürwahr, wenn sie der Gottseligkeit, Aufrichtigkeit und Redlichkeit sich befleißigen, so geschieht ihnen viel zu ungütlich, wenn man ihren niedrigen Stand ihnen vorrücken und sie deshalb verächtlich halten will. In weiterem Nachdenken fiel ihm ein, daß er dergleichen an den abgehauenen Weiden oft wahrgenommen, welche, etwa die Wege auszubessern an der Erde gelegen, gleichfalls ihre Schößlinge gerade aufrichten und ein artiges .Vorbild geben können derer, welche durch Krankheit und anderes Unglück erniedrigt sind und der Welt gleichsam unter den Füßen liegen, deren Seufzer aber, Verlangen, Begierden und Gedanken einig und gänzlich gen Himmel gerichtet sind, wie Lazarus deren einer war. O wie selig ist die Erniedrigung, welche das Herz gen Himmel erhebt! Wie gut ists, der Welt dem äußerlichen Zustande nach unter den Füßen liegen und im Geist Gott im Schooß sitzen.
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