Der König Schamil und seine Mutter

Im Jahre 1797 wurde im Kaukasus dem Fürsten eines kleinen Bergvolkes ein Sohn geboren, der den Namen Schamil erhielt Als Schamil herangewachsen war und die Herrschaft über sein Volk ergriffen hatte, erwarb er sich bald hohen Ruhm als ein tapferer und kluger Fürst. Insonderheit rühmte man ihn zweier Tugenden wegen. Man pries seine unbestechliche Gerechtigkeit und seine zarte treue Liebe zu seiner Mutter, die ihn auf seinen Kriegszügen begleitete. Eines Tages wurde dem Fürsten gemeldet, dass aus dem Heerlager wichtige Geheimnisse dem Feinde verraten seien. Trotz strenger Untersuchung konnte man den Verbrecher nicht finden. Als sich nach kurzer Zeit der gleiche Vorgang wiederholte, ließ der König allem Volk bekannt machen, dass der Verräter im Falle seiner Entdeckung vor versammeltem Kriegsvolk mit hundert Geißelhieben auf dem bloßen Rücken bestraft werden sollte. Trotzdem wiederholte sich das Verbrechen. Eines Tages kam einer der Räte des Königs in tiefster Erregung zu ihm: "König, wir haben den Schuldigen deckt." "Wer ist es?" 
"Es ist deine Mutter". Und es war so. Da schloss sich der König drei Tage und drei Nächte in sein Zelt ein. Kein Schlaf füllte sein Auge, er berührte nicht Speise oder Trank. In seiner Brust tobte ein furchtbarer Kampf. 
"König", sagte eine Stimme ihm, "denk an deine Pflicht der Gerechtigkeit. Wenn sie haltmacht vor deinem eigenen Fleisch und Blut, wer wird deinem Wort glauben, deinen Willen noch ernst nehmen?" 
"Es ist deine Mutter", sagte eine andere weiche Stimme dagegen. - Nach drei Tagen ließ der König sein Volk versammeln. Bleich, in düsterer Entschlossenheit, stand er da. Vor des Thrones Stufen kniete zitternd die Mutter und daneben stand der Henker. 
Und der König sprach: "Es ist meine Konigspflicht, das Recht zu wahren! Die Schuld muss gebüßt, das Gesetz muss erfüllt werden. Wohlan denn, Henker, tue deine Pflicht und weh dir, wenn du sie anders tust, als an dem letzten Sklaven!" 
Aber als unter tiefem Schweigen des Volkes der Henker die Geißel ergriff, da riss der König seinen Mantel von den Schultern, Sprang vor und rief: "Ich bin ihr Fleisch und Blut, ich trage ihre Strafe, Schlage mich!" - 
Und Schlag auf Schlag fiel die Geißel auf des Königs Rücken, bis er ohnmächtig in seinem Blute lag. So hat Schamil die Königspflicht der Gerechtigkeit geeint mit der Sohnespflicht der Liebe. - Das ist groß, aber größer ist das, was Jesus tat.

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 1529
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