Der Kinderbecher
Ein verständiger Hausvater hatte für seine Kinderlein einen Becher verordnet, daraus sie bei der Mahlzeit und sonst nach Durst trinken mußten. Gotthold sah und rühmte solche Hauszucht, wohl wissend, daß es besser und den Kindern zur Gesundheit und guten Sitten dienlicher ist, wenn ihnen ihr bescheiden Theil gereicht, als wenn ihnen vergönnt wird, die Zunge in allen Kannen nach Belieben und über Nothdurft zu schwemmen. Er sagte aber: Lieber, wie kommt’s, was wir unsern Kindern zuträglich befinden, daß wir solches dem allweisen Gott an uns selbst nicht gut heißen wollen? Wir verordnen und messen unsern Kindern ihr bescheiden Theil an Speise und Trank zu und wollen doch mit dem, so uns der Höchste nach seinem Gutbefinden zuordnet, so gar selten vorlieb nehmen? Oder meinen wir etwa, daß wir thörichte Menschen besser verstehen, was unsern Kindern zur Gesundheit, als Gott, was uns zur Seligkeit nützlich ist? Mein Gott! wenn ich meinen Willen hätte in zeitlichen Dingen, ich würde gewiß ganz kindisch und läppisch damit verfahren und, wie die Kinder mit übrigem Essen und Trinken, durch Mißbrauch mir und meiner Seele nur Beschwerde und Weh verursachen! Mein Vater! verordne mir einen Becher, wie groß oder klein du willst, schenk mir voll oder wenig ein, nur allezeit mit ein paar Tröpflein deines Segens und deiner Gnade! so will ich gern vorlieb nehmen.
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