Der Käfer
Als Gotthold nebst etlichen seiner Hausgenossen zur Abendzeit im Garten umher ging und die Käfer häufig flogen, begab sichs, daß einem derselben ein Käfer gerade ins Angesicht flog, davon er denn nicht allein ziemlichen Schrecken, sondern auch Schmerzen hatte, und weil der Käfer vor ihm niedersiel, zertrat er ihn mit dem Fuß und sagte im Eifer: Das soll wol hundert andern nebst dir den Kopf kosten. Gotthold lachte und sagte: Wer sollte meinen, daß man auch an einem Käfer sich versündigen könnte? Was, versetzte der andere, ist an einem Käfer gelegen? oder an hundert, welche ich wünschte sämmtlich zu vertilgen, weil sie nur Schaden thun an den Bäumen und Früchten? Gotthold fuhr fort: Ich bekenne, daß einen oder hundert Käfer tödten wol nichts Großes auf sich hat, allein der unzeitige Eifer, der Jähzorn und die Rachgier, welche ihr jetzt mit Lust habt ausgeübt, sind Sünden, die wider das fünfte Gebot laufen und unter Gottes Gericht gehören. Sehet hieraus die Unbeständigkeit des verderbten menschlichen Herzens; ich weiß, daß ihr mit der Sünde, die in eurem Fleisch wohnt, täglich streitet, euch täglich wider dieselbe mit eurem Gebet und heiligem Vorsatz verwahrt und oft meint, ihr habt sie gutermaßen gedämpft und überwunden. Seht aber, ein Käfer kann sie in euch rege machen^ so daß ihr seinem ganzen Volk gerne die Köpfe abrisset, wenn ihr sie in eurer Gewalt hättet, nicht, weil sie Schaden thun an den Früchten, sondern weil sie euch beleidigt haben. Das ist die Selbstliebe und der verborgene Schlangensamen, der in uns noch übrig ist, der von niemand nichts leiden will, der die geringste Beleidigung, so ihm widerfährt, hoch empfindet und ungerochen hingehen zu lassen ihm schimpflich und unerträglich hält. Meint ihr nicht, daß eure Natur noch jetzt so böse an ihr selbst ist, daß, wenn Gottes Gnade und Geist von euch weichen sollte, ihr das im Zorn und Eifer könntet an einem Menschen thun, was ihr jetzt an dem Käfer gethan habt? Unser Herz ist wie ein Zunder, welchen ein geringes Fünklein kann glimmend machen, und sonderlich ist die Rachsucht unserem Fleisch und Blut sehr süß; darum denn auch zween Jünger des Herrn so weit gekommen sind, daß sie um der versagten Herberge willen das Feuer vom Himmel über die Samariter wollten fallen lassen, denen aber der gütige Heiland zuredete: Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht kommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten. Luc. 9, 55. 56. So lernet nun heute, daß solche Gelegenheiten der Kinder Gottes ABC-Buch müssen sein, darin sie sich üben, die Geduld und Sanftmuth zu lernen; ein Christ muß allezeit auf seiner Hut stehen und auch in geringen Dingen sich befleißigen, seinen Willen zu brechen, die verderbte Natur zu unterhalten und den Fußstapfen des sanftmüthigen Herrn Jesu zu folgen. Zum Exempel: mir wird eine Speise vorgesetzt, die mit dem Salz nicht genugsam gewürzt, oder an welcher sonst etwas versehen ist; hier steht mir nicht an mit Schelten und Fluchen auszufahren, wie das entzündete Büchsenpulver, sondern ich muß entweder mit Sanftmuth die Meinigen des Fehlers erinnern, oder gar dazu schweigen und bei solcher Gelegenheit lernen, auch andere große Widerwärtigkeiten zu verschmerzen. Ich gehe auf der Gasse, ein Hund bellt mich an und läuft mir nach, ich gehe billig ohne einige Entrüstung vorbei und übe mich, auch an den Verleumdern und Lästerern durch Nichtachten mich zu rächen. Herr Jesu! du sanftmüthiges Herz, nimm vorlieb mit meiner Uebung und Lehrwerk und hilf mir, daß ich bei allerlei Begebenheiten zeige, daß du in mir lebest, herrschest und wohnest!
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