Der junge Karl Barth und seine Spardose
In kleinem Kreis äußerte Karl Barth (1886-1968): Es sei seine Erfahrung, dass ein einzelnes Bibelwort einen zuweilen wie ein Pfeil treffen könne und einem dann so unter die Haut gehe, dass es lebenslang haften bleibe.
Er nannte ein Beispiel. Es war, als er noch ein Junge war und in einem Mietshaus in der Berner Länggasse aufwuchs. In seinem Elternhaus herrschte ein nicht gerade kärglicher, aber doch schlichter Lebensstil. So war es den Kindern eine Wonne, wenn ein jedes zum Wochenende vom Vater fünf Rappen ausgehändigt bekam. Das Geld war allerdings sogleich in einer Spardose aufzubewahren.
Auch für damalige Verhältnisse war das wohl nicht gerade ein Kapital. Doch sammelte sich im Lauf der Wochen eine kleine Summe an, wie man sich an Gewicht und Klang der Spardose überzeugen konnte. Je mehr sich ansammelte, desto mehr wurde die Phantasie des jungen Karl mit Ideen beflügelt, wie die klingende Münze eines Tages in nützliche Dinge umzuwandeln wäre.
Die Phantasie kam nicht auf ihre Rechnung. Es geschah nämlich, dass in einer anderen Wohnung des Hauses ein Kind schwer erkrankte. Natürlich war das Leiden des Kindes auch Tischgespräch bei den Barths. Der Vater, der Theologieprofessor Fritz Barth, sagte schließlich, es stünde dem gleichaltrigen Karl wohl an, jetzt nicht nur mitleidig zu reden; er solle sein Mitleid auch zeigen und dem Kranken ein schönes Geschenk kaufen und überbringen. Der Vater ging noch weiter und meinte, das sei ja nun der gegebene Anlass, das Ersparte nützlich anzuwenden.
Karl war dazu freilich nicht im mindesten bereit. Er war ganz außer sich über diese Zumutung und hatte tausend Ausflüchte und Einfälle, wie dieses Opfer guten Gewissens zu umgehen wäre.
Doch der Vater ließ nicht locker. Als er mit Karl unter vier Augen allein war, gab er ihm seine Spardose in die Hand - und jetzt kam das Bibelwort, das den Jungen wie ein Pfeil traf: "Wer da weiß, Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist's Sünde" (Jak. 4,17). Der Vater sprach's und ließ den Sohn mit seiner Spardose allein - und mit dem Spruch.
Noch der alte Karl Barth sagte: Dass er damals sofort gewusst habe, was er nun zu tun hatte, sei ihm viel weniger wichtig als dies, dass er den Spruch seither nicht mehr vergessen habe.
(Eberhard Busch)
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