Der große Buchstabe

Einem Knaben hatte sein Lehrmeister, der ihn im Schreiben unterrichtete, eine Vorschrift gemacht und in derselben ein großes A mit vielen bunten und zierlichen Zügen, wie es ihre Kunst vermag, voran gesetzt; der Knabe machte statt dessen in der Nachschrift mehrentheils ein schlechtes A, zuweilen versuchte er zwar, das seinige auch etwas zierlich zu machen und mit Zügen zu bekleiden, es gerieth aber, wie es konnte bei einem Schüler oder Lehrling. Gotthold sagte hierauf: Der Herr Jesus hat uns alle Tugenden aufs vollkommenste in seinem allerheiligsten Leben vorgebildet, sie sind vollkommen nach allen Umständen; lasset uns sie nachbilden mit aufrichtigen einfältigen Herzen, so gut wir können, nur daß man unsern Fleiß und Lauterkeit spüre; er wird zufrieden sein, bis wir es durch stetige Uebung besser lernen. Allein ich erinnere mich, daß ich hievon schon vor diesem bei dergleichen Gelegenheit Erinnerung gethan. Darum will ich euch jetzt ein anderes vorstellen. Dieser große Buchstabe mit allen seinen Zügen und Zierden, wie sehr er ins Auge prahlt, ist und gilt nichts mehr, als ein A und giebt uns ein schickliches Bild der Menschen, die mit vieler weltlichen Eitelkeit prangen. Siehe nur an die, welche in hohen Ehren und Würden schweben, welche in Gold und Silber, in Sammet und Seiden prachten, von Diamanten und Perlen schimmern und glänzen und mit vielen Dienern umgeben auf hohen Thronen sitzen, in prächtigen Karossen fahren, an herrlichen Tafeln speisen, in weichen und kostbaren Betten ruhen, (wenn sie ruhen können) welche in der Welt hochberühmt und vor aller Menschen Augen etwas Großes sind. Wenns um und um kommt, so ist der große Buch, stabe mit allen seinen zierlichen Zügen ein A und diese mit aller ihrer Eitelkeit Menschen und mehr nichts. Von einem König in Frankreich wird berichtet, daß, als er Lust halber in die Küche gekommen, er einen Küchenjungen gefragt, was er jährlich verdiente, der ihm geantwortet: So viel, als der König. Als weiter gefragt wurde, was denn der König verdiente; Nahrung und Kleider, versetzte er, ein mehreres kann er nicht benutzen und das habe und verdiene ich auch. Von Philipp, dem dritten König in Spanien, wird gemeldet, daß er in seinem Letzten frei bekannt, man hätte nichts davon, daß man ein König wäre, als in seinem Tode ein betrübtes und beängstigtes Herz. Dies waren große Leute in dem Register der Menschen, doch warens nur Menschen und mußten lernen und erkennen, daß sie alle weltliche Herrlichkeit über die menschliche Eitelkeit und Sterblichkeit nicht hätte erheben können. Von der Collia Paulina, einer edlen und reichen Römerin, meldet Plinius, sie habe einmal bei einem Verlöbniß mittlerer Standespersonen einen Schmuck angehabt von Smaragden und Perlen, welcher nach eines gelehrten Mannes Berechnung auf zehnmal hunderttausend Thaler geschätzt worden. Zu unserer Zeit hat eine Prinzessin von Rossano in der heutigen Stadt Rom einen Schmuck von Edelsteinen getragen, der siebenmal hunderttausend Kronen werth gehalten worden. Was waren aber diese Weiber in solcher theuren Pracht? Menschen und weiter nichts. Dies wußte Gelimer, der überwundene und gefangene König der Wenden in Afrika, welcher, als er den Kaiser Justinian in großer kaiserlicher Pracht sitzen sah, lachend ausrief: Eitelkeit! Eitelkeit! So vergaffe sich nun an der Welt Phantasei und Prahlerei, wer da will, ich kanns nicht thun. Ich fürchte Menschen als Menschen, ich liebe sie als Menschen, ich verlasse mich auf sie als auf Menschen. Mein Gott! laß mich nicht viel Schein, sondern viel Geist, nicht viel Ruhm, sondern viel Thuns haben, so bin ich wohl zufrieden.

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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