Der gezähmte Jaguar
Ein reicher Mexikaner fand eines Tages auf einem Streifzug ein ganz junges Jaguarkätzchen. Er nahm es mit auf seine Farm und zog es mit einer Flasche auf. Nach einigen Wochen fraß es schon kleine, rohe Fleischstückchen, und allmählich wurde aus dem kleinen, struppigen Ding ein ausgewachsener Jaguar mit herrlich leuchtendem, glattem Fell und kräftigen Gliedern. Die Besucher der Farm staunten nicht wenig über das ungewöhnliche Haustier.
Einige Jäger aus der Umgebung warnten den Gutsbesitzer. "Behalten Sie das Tier nicht bei sich! Lassen Sie es wieder laufen, oder sperren Sie es wenigstens in einen Käfig!", rieten sie ihm. "Der Jaguar", sagten sie, "ist ein derart unbändiges Tier, dass es niemals zahm genug werden wird, um als gefahrloses Haustier zu gelten." Aber der stolze Besitzer hatte seine eigene Meinung. Er glaubte, dass das Tier durch seine liebevolle Aufzucht alle Wildheit verloren habe und ein schönes, nicht alltägliches Haustier geworden sei. Was die anderen ihm rieten, so meinte er, geschah ja nur aus Neid. So blieb der Jaguar bei ihm. Und wirklich, er folgte ihm wie ein Hund. Tag für Tag ließ er ihm wenigstens eine Zeit lang völlige Freiheit, um Haus und Hof zu durchstreifen. Er wurde sein ständiger und liebster Begleiter.
Eines Abends machte es sich der Hausherr wie gewohnt in seinem Sessel bequem und las die Zeitung. Beim Lesen merkte er, wie der Jaguar nach Katzenart mit seinem schweren Körper schnurrend um seine Beine strich. Das tat er oft. Er wollte gekrault werden. Und gedankenlos streichelte der Mann den großen, flachen Kopf und die muskulösen Schultern des Tieres. Dann spürte er die Zunge des Jaguars. Aber was war das? Diesmal fühlte sie sich rauer an als sonst. Plötzlich fiel ihm ein, dass er sich am Nachmittag an der Rosenhecke verletzt hatte. Und wirklich, als er die Zeitung beiseite legte, sah er, dass die kaum verheilte Wunde durch die raspelartige Zunge des Jaguars aufgerissen war und wieder blutete.
Er stutzte. Dann befahl er dem Tier, von seiner Seite wegzugehen. Aber es gehorchte nicht. So versetzte er ihm mit dem Fuß einen Stoß, dass es sich in die gegenüberliegende Ecke schlich. Dann griff er wieder zur Zeitung, um weiterzulesen.
Aber irgendwie war es ihm nicht geheuer. Die Stille kam ihm unheimlich vor. Irgendeine ungeahnte Gefahr lag in der Luft. Über den Zeitungsrand blickte er zu seinem Jaguar. Da riss er seine Augen vor Schreck weit auf. Er wurde totenbleich. Was er dort erblickte, das war nicht sein zahmes, gutes Haustier. Da lauerte ein Raubtier mit Augen wie loderndes Feuer. Aufgeregt zuckte der Schwanz hin und her. Alles an dem Tier war geballte Kraft und angespannte Energie. Kaum konnte der Mann den unaussprechlichen Gedanken, der ihn auf einmal überfiel, zu Ende denken, da geschah es schon. Die mächtige Katze setzte zum Sprung an, um ihr wehrloses Opfer erbarmungslos und grauenhaft zuzurichten.
Die Jäger hatten Recht behalten. Ein Jaguar wird seine Raubtiernatur auf die Dauer nie verleugnen. Aber nun war es zu spät. Ein für allemal zu spät!
Der Teufel macht es mit dem Menschen genauso. Erst lässt er den Menschen mit der Sünde spielen, dann wird der Verführte ein Spielball der Sünde. Erst sieht alles so schön, so reizend und harmlos aus, und dann wird bittere Sklaverei daraus. Und schließlich kommt das furchtbare Ende. Die Sünde und der Satan werfen sich auf ihr Opfer und verderben es für Zeit und Ewigkeit. - Aber es muss nicht so sein. Gott sei Lob und Dank, dass es einen Befreier gibt! Einen, der uns vor dem "Jaguar" schützt. "Wer Sünde tut der ist der Sünde Knecht." Aber: "So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei" (Joh. 8,34.36).
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