Der geblendete Vogel

Gotthold kam in eine Stube, darinnen unterschiedliche Vögel zur Lust unterhalten wurden, unter welchen auch eine Nachtigall, die in einem mit grünem Tuch bezogenen Käsig saß, und dann ein Finke, der geblendet war, welche, wie der Wirth sagte und die Erfahrung bezeugte, es allen mit fröhlichem und lieblichem Singen zuvor thaten. Dies ist wol, sagte Gotthold, ein eigentliches Bild eines andächtigen Beters, der mit seinem lieben Gott kindlich und kühnlich reden und ihm mit fröhlichem Munde für seine mancherlei Wohlthaten danken will. Es gehört dazu eine einsame und stille Seele, welche nicht allein einen verborgnen abgelegenen Ort erwählt, da sie von äußerlichen Begebenheiten nicht geirrt, sondern die auch sich von ihren eignen Gedanken, Sorgen und Willen entziehen und sich mit kindlichem Vertrauen und christlicher Zufriedenheit in Gottes Willen ergeben kann. Wie selig ist der, dessen Seele beim Gebet geblendet ist, daß sie nichts sieht, als Gottes Güte und Barmherzigkeit! die betet, singt und seufzt, daß Gott und alle h. Engel mit Lust zuhören. Es kommt uns zwar anfangs wunderlich vor, daß wir so gar nichts in der Welt vertraulich ansehen sollen, und denken, was will daraus werden, allein die Erfahrung bezeugts, daß niemand schärfer sieht und lieblicher singt, als der von der Welt abgesondert, in stiller Einfalt, mit verschlossenen Augen der Vernunft fein Herz auf Gott gerichtet hat. Mein Gott, blende mich, daß ich sehen möge! sondere mich von der Welt, daß ich bei dir sein möge

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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