Der fruchtreiche Baum

Gotthold sah, bei einem Garten vorbeigehend, einen Birnbaum voller frühzeitiger schöner Früchte, dessen Zweige unter der Früchte Menge so gebeugt waren, als wollten sie brechen; er sagte zu einer Person, so bei ihm war: Was meinet ihr, daß dieser Baum bedarf? Eine Stütze oder etliche, versetzte dieselbe, unter den beschwerten Zweigen. Nein, antwortete Gotthold, sondern Hände, so die Früchte brechen und Körbe, so sie fassen. Wir haben hieran ein schönes Bild des Herrn Jesu, unsers allerliebsten und theuersten Erlösers; der bedarf meiner und ich seiner, so kommen wir wohl zusammen. Lasset euch nicht wundern, daß ich sage, der Herr Jesus bedürfe meiner, nämlich wie dieser Baum der Körbe, wie der Prophetin von Gott gesegnetes Oelkrüglein der leeren Gefäße, 2. Kön. -t, 2., wie eine Mutter, welche die Milch dringt, eines Kindes, das sie ausleert. Die Liebe dringt den Herrn Jesum, daß er mich sucht; mich dringt meine Noth, daß ich ihn suche; der Herr Jesus hat alles, Himmel und Erde ist sein und alles, was darinnen ist; er bedarfs aber nicht, nur Seelen und Herzen bedarf er, mit seiner Gnade und seinem Geist zu füllen und selig zu machen. O große Liebe! o Leutseligkeit und Freundlichkeit Gottes, unsers Heilandes! der nichts bedarf, der bedarf eines sündhaften elenden Menschen! Was dünket euch, ob wir denn seiner auch wohl bedürfen? Was mich betrifft, meine Seele ist wie ein schmächtiges und durstiges Kind, ich bedarf seiner Liebe und seines Trostes zu meiner Erquickung; ich bin wie ein verirrt und verloren Schaf, ich bedarf sein als eines getreuen und guten Hirten; meine Seele ist wie eine verschüchterte und vom Habicht gejagte Taube, ich bedarf seiner Wunden zu meiner Zuflucht; ich bin eine schwache Rebe und bedarf eines Kreuzes, darum ich mich winde und daran mich fest halte; ich bin ein Sünder und . bedarf seiner Gerechtigkeit, ich bin nackt und bloß und bedarf seiner Herrlichkeit und Unschuld, mich zu decken, ich bin betrübt und erschrocken und bedarf seines Trostes, ich bin unwissend und bedarf seiner Lehre, ich bin albern und einfältig und bedarf der Regierung seines H. Geistes; ich kann seiner nimmer und nirgends entrathen; wenn ich beten soll, so muß er mein Fürbitter und Worthalter, wenn mich der Satan vor Gottes Gericht verklagt, so muß er mein Fürsprecher, wenn ich in Noth gerathe, so muß er mein Helfer, wenn mich die Welt verfolgt, so muß er mein Schutzherr, wenn ich verlassen bin, so muß er mein Beistand, wenn ich sterben soll, so muß er mein Leben, wenn ich im Grabe verwese, so muß er meine Auferstehung sein. Nun so will ich denn der ganzen Welt und alles, was darinnen ist, lieber entrathen, als deiner, mein allerliebster Erlöser! Und, Gott sei Lob! daß ich weiß, daß du meiner auch nicht entrathen willst und kannst; du bist reich, ich arm; du hast Ueberfluß, ich habe Mangel; du hast Gerechtigkeit, ich habe Sünde; du hast Oel und Wein, ich habe Wunden; du hast Erquickung und Labsal, ich habe Hunger und Durst. So gebrauche nun, mein Heiland! meiner, wo und wie du mein bedarfst. Hier ist mein armes Herz, ein leeres Gefäß, fülle es mit deiner Gnade. Hier ist meine sündhafte, betrübte Seele, erquicke und erfreue sie mit deiner Liebe. Bedarfst du auch sonst meiner, mein Herr Jesu! siehe, so bin ich dein Knecht! Gebrauche mein Herz zu deiner Wohnung, gebrauche meines Mundes, deines Namens Ruhm auszubreiten, gebrauche meines ganzen Lebens und aller meiner Kräfte zu deinen Ehren und deiner Gläubigen Dienst und laß ja die Freudigkeit meines Glaubens nicht aufhören, daß ich allezeit von Herzen sagen könne: Jesus bedarf meiner und ich seiner, so kommen wir wohl zusammen!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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