Der Film des Lebens beim Sterben

Hermann Thiele, Obermaat des Panzerkreuzers "Friedrich Karl", erzählt im Stuttgarter Neuen Tagblatt, was er dachte, als er beim Sinken seines Schiffes bei Memel beinahe ertrank: "Waren nun zwar die Sinne abgestorben, so war es doch der Geist nicht. Im Gegenteil, seine Tätigkeit schien in einem Verhältnis gestärkt zu sein, das aller Beschreibung spottet. Ein Gedanke jagte den andern mit einer Schnelligkeit der Aufeinanderfolge, die nicht nur nicht wiedergegeben werden kann, sondern gewiss auch jedem, der nicht in einer ähnlichen Lage gewesen, unbegreiflich ist." Er beschreibt weiter, wie die Erlebnisse der letzten Stunden, die entsetzliche Wirkung seines Todes auf seine Frau, die frühere Lebenszeit an seinem Auge vorübereilen. "So rückwärts reisend, erschien mir jeder Vorfall meines vergangenen Lebens in meinem Gedächtnis in rückschreitender Aufeinanderfolge. Aber nicht in bloßen Umrissen,  sondern mit allen kleinsten Zügen und Nebenumständen. Kurz, der ganze Zeitraum meiner Existenz erschien mir als eine Art Panorama vor die Seele geführt. Dabei wurde jeder Auftritt mit einem Bewusstsein von Recht oder Unrecht, oder mit einer gewissen Erwägung von Ursachen und Folgen begleitet. Dieses ganze fürchterliche Erlebnis hat mich schließlich dazu veranlasst, an die fast unendliche Kraft des Gedächtnisses zu glauben, mit welcher wir in einer anderen Welt erwachen werden! Wie lange ich vor diesem Film des eigenen Lebens zubrachte, kann ich nicht mit Bestimmtheit angeben, doch können gewiss kaum zwei Minuten von dem Moment der Erstickung an bis zu meiner Rettung verstrichen sein. Jahrelang habe ich in russischer Gefangenschaft über diese Zeitspanne zwischen Leben und Tod nachdenken dürfen."

Quelle: Er ist unser Leben: Beispiel- und Stoffsammlung für die Verkündigung, Martin Haug, 1941, Beispiel 2118
© Alle Rechte vorbehalten