Der Feigenbaum

In eines vornehmen Mannes Lustgarten ward unter andern fremden Gewächsen auch ein Feigenbaum gefunden. Als nun einer von den Anverwandten Gottholds in dem Garten gewesen und ein Blatt von gemeldetem Baum abgebrochen zu ihm brachte, sagend: Sollte es denn wol ein solcher Baum gewesen sein, an welchem die erste Sünde begangen, und solch Laub, daraus die ersten Kleider gemacht worden? antwortete ihm Golthold: Was hilfts uns, ob wirs wissen oder nicht, was es eigentlich für ein Baum gewesen, der unsern ersten Eltern zum Anstoß und Fall gerathen, da wir noch täglich an verbotnen Früchten uns vergreifen? Was hilfts, ob wir wissen, was es für ein Laub gewesen, das sie zum Schanddeckel gebraucht, da wir noch jetzt von allen Bäumen Feigenblätter zu brechen, ich will sagen, gar leicht einigen Vorwand, unsere Sünde W entschuldigen, zu finden wissen? Vorwitz ist es, um solche unnöthiger Fragen sich bekümmern und seinen eignen Zustand nicht beobachten; und dies ist der meisten Menschen meiste Arbeit, daß sie alles untersuchen und ihres eignen Herzens und Gewissens vergessen. Damit ihr aber dieses Feigenblatt nicht umsonst abgebrochen habt, will ich euch noch einige andere Erinnerungen darauf zeichnen, Der Feigenbaum trägt Frucht sonder Blüthe, wie man auch hiesigen Orts eine Art Aepfel hat, die ohne Blüthe gezeugt werden; so soll ein Christ mehr Gutes in den Werken, als Worten haben und ohne groß Wesen und Ruhmsucht Gutes thun. An dem Feigenbaum ist alles bitter, wie die Erfahrung bezeugt, das Laub, die Rinde, der Saft, das Holz, die Wurzel, doch ist die Frucht süß; verwundert euch über die Allmacht und Weisheit Gottes, welche aus der Bitterkeit die Süßigkeit weiß hervor zu bringen, und gedenket an die Worte des h. Apostels, Hebr. 12, 11.: Alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünket sie uns nicht Freude, sondern Traurigkeit sein; aber darnach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind. Am Kreuz ist oft lauter Bitterkeit; es ist unserm Fleisch zuwider, das muß seinen Willen nicht haben, das ist bitter; es ist mannigfaltig, das ist bitter; es währt oft sehr lange, das ist bitter; es macht uns vor der Welt verachtet, das ist bitter; es greift oft Leib und Seel zugleich an, das ist bitter; aber man lernt im Kreuz beten, glauben, auf Gott hoffen, stille sein, Geduld haben, man wird demüthig, man lernt sich selbst verleugnen, die Welt verschmähen, nach dem Himmel sich sehnen, das sind eitel süße Früchte. O, wie wohl hat jener vortreffliche Gottesgelehrte gesagt, als er gefragt worden, wie er so erbaulich und tröstlich predigen könnte: Das haben mich meine Anfechtungen gelehrt! So möchte mancher fromme Christ sagen, welcher andächtig beten und andern im Kreuz kräftig zusprechen kann: Das hat mich mein Kreuz gelehrt! Was schadets denn nun, daß der Kreuzbaum bitter ist, wenn er nur süße Früchte der Gottseligkeit und der Freude trägt? Nun, mein Gott! pflanze deinen Baum in meinen Garten, wenn er schon bitter ist, ich will ihn fröhlich annehmen und mit meinen Thränen so lange feuchten, bis er mir zu seiner Zeit süße Trostfrüchte bringt. Du schenkst deinen Kindern niemals einen so bittern Kelch ein, daß nicht Zucker sollte auf dem Grunde liegen!

Quelle: Christian Scriver - Gottholds zufällige Andachten
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