Der Erlen- oder Elsenbaum
Als Gotthold an einem Wasser spazieren ging, fand er am Ufer einen geraden und ziemlich großen Erlen- oder Elsenbaum, wie ihn etliche Landsarten nennen. Dieses Holz, sagte er bei sich selbst, ist eines von den allerweichsten, das sich leicht spalten, schneiden und bearbeiten läßt, und dennoch bezeugt es die Erfahrung, daß es im Wasser nicht verfault, sondern immerdar dauert, maßen denn die Stadt Venedig wol meistentheils auf solchen Pfählen steht, in welcher dies weiche Holz den Grund im Wasser zu den hohen und schweren Gebäuden geben muß. So ist’s auch mit den sanftmüthigen Herzen bewandt; nichts giebt einen besseren Grund in wichtigen Verrichtungen zum gemeinen und besonderen Besten, als die vernünftige Bescheidenheit, welche zwar gelind ist und gern, so viel mit gutem Gewissen geschehen kann, weicht, jedoch im Wasser der Widrigkeit ausdauert und unbeweglich sieht. Nichts ist kräftiger, ein Regiment im Wohlstand zu erhalten, als das gute Vertrauen, so sich zwischen den Obern und Untern findet; dieses aber ist ein Sohn der Sanftmuth, welche allezeit ihren Willen zu brechen und, daß sie nicht so sehr nach ihrem Dünken, als gemeinem Nutzen trachtet, mit freundlicher Anzeigung zu erweisen weiß. Darum ist es wahr, was Salomo sagt: Ein Geduldiger (und Langmüthiger) ist besser, denn ein Starker, und ein verständiger (bescheidener, freundlich-kluger) Mann ist eine theure Seele. Sprüchw. 16, 32., 17, 27. Wer demnach in der Welt gedenkt mit Nutz zu leben und etwas Gutes mit Bestand zu stiften, vermeint aber, alle Kopfe nach seinem zu gestalten, der ist gleich jenem thörichten Mann, der sein Haus ohne tüchtigen Grund auf den Sand baute. Matth. 7, 26. Du sanftmüthiger und von Herzen demüthiger Herr Jesu! deine Liebe und Sanftmuth hat den Grund zu unserer Seligkeit gelegt, und darauf besteht sie noch jetzt; wärest du nicht sanftmüthig und geduldig, wie wollte ein Mensch selig werden? Gieb mir auch ein sanftmüthiges und liebreiches Herz, und dies sei der Grund aller meiner Sachen, darin ich mit meinem Nächsten zu seinem Besten zu handeln habe.
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